„How do you throw a brick through the window of a bank if you can’t get out of bed?“ – diese zentrale Frage aus Johanna Hedvas Sick Woman Theorie führt uns direkt auf den Kampfplatz feministischer Auseinandersetzungen mit Melancholie. Vom Bett also nicht zum Entglasen der Bank, aber doch zum „Kampfplatz“? Wirklich? Militaristische Metaphorik gleich im ersten Satz, ist das nicht etwas unglücklich? Tatsächlich ist das Bild des Kampfplatzes in diesem Zusammenhang nicht eine unglücklich gewählte, sondern eine unglücklich-glückliche Metapher: Sie drückt Problematisches und Problematisiertes zugleich aus. Unglücklich ist sie, weil sie maskulinistische Auffassungen des Politischen transportiert, die sich am Bild des letzten Gefechtes orientieren, in dem das Gegnerische heldenhaft niedergerungen wird. Feministische Bezugnahmen auf Melancholie beinhalten eine Kritik dieser Schlachtfeld-Perspektive. „Glücklich“ im Sinne von trefflich ist die Metapher des Kampfplatzes dahingehend, dass feministische Perspektiven auf Melancholie in ihren vielfältigen künstlerischen, reflexiven und in vermittelter Weise auch ihren leib-seelischen Formen derartige Bilder des Politischen aus der Sphäre des Selbstverständlichen lösen.
Indem sie diese Bilder nicht nur als je schon umkämpfte und zu umkämpfende ausweisen, sondern auch die in diesen Bildern wirksamen unterkomplexen Verhältnisbestimmungen kritisieren, führen feministische Auseinandersetzungen mit Melancholie die in hegemonialen Gebräuchen verhärteten Begriffe erneut dem Kampffeld zu, damit ihr Ständisches und Stehendes verdampft. In diesem Sinne ist Melancholie – traditionell doch unter Verdacht stehend, lähmend zu wirken – „aktivierend“. Das ist zunächst nur ein Moment einer größeren Umwendungsbewegung, wie sie in feministische Auseinandersetzungen vollzogen wird, um die Melancholie selbst in die Sphäre des Politischen einzuschreiben – in das Feld politischer Praxis, das sich von Melancholie gemeinhin reinhalten will durch allerlei Abspaltungs- und Verschiebungsmaßnahmen. Als Signum des Anomalen und Widerpart von „Praxis“ hält man sich die Melancholie vom (politischen) Leib, indem sie auf die Spielwiese künstlerischen Tuns oder in die klinischen Räume der Psychopathologie verwiesen wird. Das erlaubt, künstlerische Artikulationen von Melancholie zu entpolitisieren und zu ästhetisieren: Hast’ Melancholie, bist halt ein Genie! Das erlaubt, die leib-seelischen Dimensionen von Melancholie zu entpolitisieren und zur reinen Krankheit zu privatisieren. Das erlaubt, das Auftreten der Melancholie in politischen Praxen zu entpolitisieren und als subjektive Krisenerscheinungen zu pathologisieren: Revolutionär wird’s nie, hast’ „linke Melancholie“! Feministische Perspektiven auf Melancholie – jedenfalls jene, die mich interessieren – meiden solche Schüttelreime und kritisieren an diesen Schiebereien, dass sie trennen, was zusammenzudenken ist und dass sie individualisieren, was auf gesellschaftliche Verhältnisse zu beziehen ist. Aber nicht so schnell! Ist das Métier des Melancholischen doch geprägt von Langsamkeit, Bedächtigkeit, Verzögerung und leider auch Verkomplizierung durch Wiederholungsschleifen. Also noch einmal zurück.
„How do you throw a brick through the window of a bank if you can’t get out of bed?“ – diese Frage aus Hedvas antiableistischem Manifest eröffnet das ganze Spannungsfeld vereinfachender Gegenüberstellungen, wie sie in traditionellen Auffassungen politischen Widerstands wirksam sind: Aktivität („Tut was! Werft einen Stein!“) versus Passivität („Steht auf! Hört auf Rumzuliegen!“), sichtbar und öffentlich („Raus auf die Straße!“) versus unsichtbar und privat („Raus aus dem Bett! Zeigt nicht Eure Wunden, sondern Eure Stärke!“), kollektiv und individuiert („Versammelt Euch!“). Diese Gegenüberstellungen sind auf einer tieferen Ebene mit weiteren Unterscheidungspaaren verbunden: Auf der politischen „Seite“ des Aktiven, Sichtbaren, Kollektiven findet sich das Hoffnungsvolle, Zielstrebige, Optimistische („Voran!“) und „Gesunde“ („Haltet Euch fit für den Kampf! Bewegt euch für die Bewegung! Stemmt Backsteine!“). Auf der „Gegenseite“ des angeblich Passiven, Unsichtbaren, Privaten, Individuellen, also auf der Seite desjenigen, was des Politischen nicht nur für unwürdig befunden, sondern was als die politische Praxis hemmend und störend verfemt wird, findet sich die Resignation, das Trauern, Zögern und Zaudern, das Verzagte, „Pessimistische“ und „Kranke“. Es dürfte nicht überraschen, dass die Zuschreibungen auf der „Problemseite“ allesamt zugleich pathologisierende Charakterisierungen der Melancholie sind. Feministische Perspektiven lassen die Melancholie gegen solche Aufteilungen antreten: Sie wird zur Ausdrucksform der Irritation binärer und antagonistischer Logiken. Im Stören dieser Logiken ist Melancholie die Ausdrucksform des Anti-Imperativs und Anti-Heroismus.
„How do you throw a brick through the window of a bank if you can’t get out of bed?“ – nehmen wir die ersten Bilder, die Johanna Hedvas Frage in uns evoziert. Bank oder Bett, harte, unnachgiebige Ziegelsteine, scharf splitterndes Glas oder nachgiebige Kissen und federnd weiche Decken, die Sphäre des Geldes, der politischen Ökonomie, des Risikos und des politischen Kampfes oder eben die Sphäre der Häuslichkeit, der Gebrechen, der Intimität und Sorge – wie haben wir sie denn imaginiert, die Protagonist*innen dieser Bilder, waren es vor der Bank und im Bett die gleichen? Oder lag da eine, na, ich will mal nicht so sein, sagen wir: „androgyne“, schwarz vermummte Gestalt in unserem Bilderbett, wurde die Bilderbank von unserer Mutter um ihre gläserne Fassade gebracht? Sind wir schon so weit? Vielleicht manchmal. Meistens aber wohl eher nicht. Auch wenn die aktuellen, global aufflackernden gesellschaftlichen Kämpfe Bilder produzieren, welche die alten binär-vergeschlechtlichten Zuschreibungslogiken unterlaufen und überlagern, so wird uns noch eine Weile beschäftigt halten, was Sara Ahmed als Programm feministischer Geschichtsschreibung ausweist: Diese müsse eine Geschichte des Bewusstwerdens dessen beinhalten, wie bestimmte Zuschreibungen – „troubling attributions“ – bestimmte Subjekte auf ungleiche Weise treffen.
Gerade in Rekonstruktionen, die pejorative Zuschreibungen als Ausdruck spezifischer Herrschaftsverhältnisse und -praktiken sichtbar machen, zeigen sich die oftmals äußerst gewaltvollen Wirkungen solcher Zuschreibungen. „Melancholiker*innen“ wurden als „Hexen“ verbrannt, in psychiatrischen Institutionen „ruhiggestellt“, gleichzeitig aber von den Berufungsmöglichkeiten auf die sogenannte „heroische Melancholie“ als Typus schöpferischen Tätigseins ausgeschlossen. Hieran zeigt sich zugleich deutlich, dass „Geschlechterverhältnisse“ immer auch „als Produktionsverhältnisse“ zu verstehen sind, und umgekehrt. Denn diese ungleichen Zuschreibungen und Berufungsmöglichkeiten verdanken sich einer auf der geschlechtlichen Arbeitsteilung aufruhenden Aufteilung in intellektuelles, künstlerisches, politisches Tätigsein und einem für nicht weiter erwähnenswert erachteten Rest: reproduktive Tätigkeiten „et cetera“. In der 2500-jährigen Geschichte des Melancholie-Begriffs wurde demgemäß die Teilhabe an den nobilitierenden Dimensionen der Melancholie in der Regel vermögenden (später auch an kulturellem Kapital reichen) Männern vorbehalten, die es sich natürlich auch nicht nehmen ließen, bestimmte unbeliebte melancholische Rollen mit bestimmten Weiblichkeitsvorstellungen zu verbinden: So wie als weiblich verstandene Artikulationen von Melancholie mit einem zu Verfemenden, Pathologischen kurzgeschlossen wurden, fanden sich „Frauen“ gleichzeitig als Melancholie erzeugende Objekte einer männlichen Phantasie, wiederum mit Aufstiegschancen zur (an pathologischer Melancholie zugrunde gegangenen) „schönen Leich“.
Das Spannende an feministischen Auseinandersetzungen mit Melancholie ist nun, dass sie sich nicht nur einer Geschichte der ideologischen Dimensionen und gewaltsamen Wirkungen solcher Narrative widmen, sondern gleichermaßen all jene Widerstände und Subvertierungen in den Blick rücken, die in Perspektive androzentrischer „Großgeschichtsschreibung“ verdeckt wurden. Davon zeugen besonders künstlerische Umgangsweisen mit Melancholie, die hier als Topos und Ausdrucksform feministischer Kritik zugleich auftritt. Melancholie erscheint hier nicht als das Andere politischer Praxis, sondern in mehreren Hinsichten auf sie bezogen: Erstens als verborgene Form von Widerstand, wenn nur mikropolitische Strategien und leib-seelische Äußerungsformen möglich scheinen. In diesem Zusammenhang wird zudem die klinisch-pathologische Begriffsdimension der Melancholie gewendet: Von einer „individuellen Krankheit“ wird sie zur auf gesellschaftliche Verhältnisse bezogenen „Erkrankung“ und damit zugleich zur zeitdiagnostischen Kategorie von Kritik, die sich auf die vielfältigen leib-seelischen Leidens-, Erschöpfungs- und Destabilisierungserscheinungen (Depression, „Burnout“, Ängste, Traumata) richtet und diese als Ausdruck spezifischer Widersprüche der kapitalistischen Reproduktionsweise, gesellschaftlicher Gewalt- und Ausschlussverhältnisse versteht.
Zweitens erscheint Melancholie als Artikulation einer Kritik an heroischen Konzeptionen und androzentrischen Hypostasierungen intentionalistischer, aktivistischer und militanter Momente in Modellierungen politischer Praxis, die in Perspektive auf die Wirksamkeit widerständiger Praxis zwar auf die Notwendigkeit gesellschaftlichen und kollektiven Widerstands verweist, diese aber weder gegen individuelle, verborgene Praxen ausspielt, noch rein optimistische Affektensembles choreografieren will, welche Erschöpfungserscheinungen und Umgangsweisen mit politischem Scheitern verdecken oder verdrängen. Melancholie zeigt sich als Ausdrucksform der Verweigerung, wenn politische Praxis auf ein voluntaristisches oder exzeptionalistisches Moment reduziert wird.
Schließlich, drittens, zeigt sich Melancholie in mehrfachem Sinne als kritischer Modus einer sich als politisch verstehenden ästhetischen Praxis: Als Modus des Erinnerns, Durcharbeitens sowie Wachhaltens von Unabgegoltenem; als Modus einer Kritik an grenzziehenden, instrumentellen und anti-pluralen Perspektiven, als Suchbewegung nach neuen Widerstandsformen, Lebensweisen und konkret-utopischen Horizonten, in der im Ästhetischen ausgelotet und erprobt werden kann, was noch der Verwirklichung harrt.
„How do you throw a brick through the window of a bank if you can’t get out of bed?“ – stellen wir Hedvas Frage in den Kontext dieser feministischen Auseinandersetzungen mit Melancholie, wird sie als immanente Kritik an den Ausschlussmechanismen und Idealisierungen bestimmter Vorstellungen von politischer Praxis lesbar. Hedva stellt diese Frage aus der horizontalen „Schieflage“ eines von chronischen Erkrankungen Ins-Bett-gezwungen-Seins heraus. Dabei wird das Bett zum Ort intellektueller und künstlerischer Tätigkeit, von dem aus nicht nur die Forderung nach Teilhabe an einer anderen, inklusiveren politischen Praxis, sondern darüber hinaus die Forderung anderer Reflexionsweisen politischer Praxis artikuliert wird. Im Ausgang einer Reflexion, die Melancholie als Moment politischer Praxis versteht, beinhaltet das Konzeptionen politischer Subjektivität, die nicht länger „Handlungsfähigkeit“ mit „Autonomie“ zusammenschließen, sondern an Dimensionen wie Vulnerabilität und Abhängigkeit ansetzen. Damit ginge einher, politisches Tätigsein nicht als das „Andere“ körperlicher und sinnlicher Praxis zu verstehen, sondern als etwas, das auch Anderes umfasst als die letzte große Schlacht – und mehr umfasst als das große außergewöhnliche Ereignis: ästhetische Praxen, die Arbeit an anderen Beziehungsweisen und Weisen von Welterschließung, Trauerarbeit und Erinnerungspolitiken, Widerstände gegen hegemoniale Sichtbarkeits- sowie affektuale und emotionale Regime, ein Unterlaufen diffamierender gesellschaftlicher Zuschreibungs- und Unterscheidungsweisen und nicht zuletzt auch das Erschließen neuer, kollektiver und solidarischer Umgangsweisen mit Formen individuellen Leidens.