In den Sozialwissenschaften, in politischen Bewegungen und liberalen Medien erfreut sich der Begriff der „Intersektionalität“ aktuell großer Beliebtheit. Er steht für den Anspruch, Ungleichheitsverhältnisse in ihrem Zusammenhang und ihrer Überschneidung zu fassen. Meist steht dabei die subjektive Ebene im Zentrum, die mit Begriffen wie Identität, alltäglicher Erfahrung und Privilegien beschrieben wird. Keine Unterdrückungsform, so ein Kernpostulat, könne als ursächlich oder bestimmend für die anderen verstanden werden. In diesem Sinne betont „intersektionale“ Politik die Gleichrangigkeit aller Diskriminierungsformen. Historisch-materialistische Ansätze bleiben in der Regel unbeachtet oder werden als „ökonomistisch“ abgetan.
Dass der Zusammenhang von Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnissen begriffen und diese bekämpft werden müssen, steht außer Frage. Und es ist zweifelsohne begrüßenswert, wenn z.B. Aktive der Klima-, der antirassistischen und der feministischen Bewegungen gemeinsame Perspektiven diskutieren. Aber die politisch-intellektuelle Agenda, die hier als Intersektionalismus bezeichnet wird, taugt nicht als Grundlage für progressive Gesellschaftskritik, weil sie den Zusammenhang zwischen Kapitalismus und Unterdrückung allenfalls unvollständig abbildet.
„Intersektion“: ein uneindeutiger Begriff
Intersektionalität war immer ein theoretisches und politisch-aktivistisches Konzept zugleich. Dessen Ursprünge gehen zurück auf die politischen Bewegungen afroamerikanischer Frauen in den der 1960er-Jahren. Während jedoch etwa das Combahee River Collective in den 1970ern für eine sozialistische Politik eintrat, die sich gleichermaßen gegen Rassismus, Sexismus und Imperialismus richtete, haben Debatten über Intersektionalität seit den 1990er-Jahren meist einen liberalen, primär diskriminierungskritischen Zuschnitt. Diese Debatten wurden – durchaus passend zum damaligen Zeitgeist – oft in Abgrenzung zu sozialistischen und marxistischen Positionen geführt.
Angesichts verschiedener intersektionalistischer Ansätze herrscht bis heute keine Klarheit darüber, woher die „Intersektion“ von Ungleichheiten eigentlich kommt, warum sie in verschiedenen Gesellschaften und Zeitpunkten unterschiedlich ausfällt, wodurch sie sich verändert und auf welcher Ebene sie begriffen werden muss: Sind es die gesellschaftlichen Verhältnisse, die sich kreuzen, sind es die Kategorien ihrer Analyse oder die Identitäten der Betroffenen? Am Ende erschöpfen sich entsprechende Analysen – trotz gegenteiligen Anspruchs – oft in der Aufzählung und Beschreibung von Unterdrückungsformen, obwohl deren Ursprung, Zusammenhang und Veränderung erklärt werden müssten. So bleibt unklar, wo progressive Politik ansetzen müsste.
Verengung auf Diskriminierung, Identität und „Privilegien“
Die Analyse dynamischer sozioökonomischer Produktionsbeziehungen, die sich als Klassenstruktur verdinglicht haben, fehlt in den tonangebenden intersektionalistischen Ansätzen. So kann der Zusammenhang von kapitalistischen Produktionsverhältnissen und ökonomisch-politischen Interessen sowie Rassismus und Sexismus aber nicht ausreichend abgebildet werden. Ausbeutung und Unterdrückung werden stattdessen diskriminierungstheoretisch verengt und vorrangig – wie in der Debatte über „Klassismus“ – auf der Ebene von „Privilegien“, Identität und Erfahrung verhandelt.
Die Politisierung gesellschaftlicher Widersprüche erfolgt so vornehmlich über Anerkennungs- und Repräsentationsfragen, die letztlich nicht auf die Überwindung der ursächlichen kapitalistischen Gesellschaftsordnung zielen. Trotz mitunter gegenteiliger Absichten oder radikaler Rhetorik harmoniert der Intersektionalismus in seiner hegemonialen Form deswegen nicht zufällig mit kapitalkonformen Diversity-Programmen, die auf die Vereinnahmung emanzipatorischer Anliegen zielen.
Verallgemeinerbare Interessen
Die „intersektionale“ Gleichrangigkeit aller Ungleichheitsverhältnisse wird zudem oft eher dogmatisch gesetzt als begründet oder belegt. Der Hinweis etwa, dass Rassismen maßgeblich durch kapitalistische Produktionsverhältnisse strukturiert werden, wird als politisch-normative Hierarchisierung missverstanden und abgelehnt. Aus der Analyse und Kritik eines grundlegenden gesellschaftlichen Vermittlungs- und Strukturzusammenhanges folgt aber weder die politisch-moralische Vernachlässigung von Unterdrückungsformen als ‚weniger wichtig’ noch ein Aufschub ihrer Bekämpfung.
Allen Vorurteilen zum Trotz gingen Karl Marx und Friedrich Engels davon aus, dass die ökonomische Lage die Grundlage der Gesellschaft und ihrer Konflikte bildet. Formen politischer Herrschaft entwickeln dabei eine relative Eigenständigkeit und sind nicht auf die gesellschaftliche „Basis“ reduzierbar. Gleichwohl existieren sie nicht unabhängig von dieser, vielmehr werden sie durch sozioökonomische Produktionsbeziehungen geformt.
Eine historisch-materialistische Kritik des modernen Kapitalismus ist nötig, nicht zuletzt um gegenüber dessen Tendenz zur repressiven Toleranz und Vereinnahmung kritischer Impulse oppositionsfähig sein zu können. Dazu muss an materialistische Theorien zu Rassismus und Geschlechterverhältnissen angeknüpft werden. Es gilt, den Zusammenhang von politischer Ökonomie einerseits und subjektiven Erfahrungen andererseits zu begreifen. Dies wäre auch eine Voraussetzung, um die unter kapitalistischen Verhältnissen nahegelegten Partikularinteressen verschiedener Gruppen in verallgemeinerbaren Interessen zusammenführen zu können.
Der Beitrag ist in ausführlicherer Fassung erschienen in Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung, Nr. 126 zum Schwerpunkt „Kritik des Intersektionalismus“.
John Lütten ist Soziologe und lebt in Hamburg. Christin Bernhold ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Hamburg. Felix Eckert ist Student der Politikwissenschaftin Hamburg.