Marxistische Verdrängungsleistungen

Wenn Uwe-Jens Heuer in seinem Buch Marxismus und Glauben davon schreibt, dass vieles von dem, was Max Weber schrieb, „nur als Auseinandersetzung mit dem Marxismus zu verstehen“ sei1, will er damit nicht nur deutlich machen, dass Marx (und der Marxismus) eine große Bedeutung für das Denken des berühmten Soziologen besaß, sondern vor allem auch, dass diese Bedeutung selbst von diesem nicht kenntlich gemacht wurde und daher betont werden muss, um die Dinge ins rechte Licht zu rücken. Es geht also darum, dass bestimmte Gedanken nur vor dem Hintergrund bestimmter Lektüren, historischer Kontexte und Auseinandersetzungen zu verstehen sind. Das Einfordern all dies kenntlich zu machen ist zugleich das Geltendmachen von Bedeutung, im Falle Heuers: der Wichtigkeit von Marx. Was Heuer im Falles Max Webers für Marx (und den Marxismus) macht und einfordert, gilt für den Anarchismus im Allgemeinen vielleicht noch sehr viel stärker, ist der Anarchismus doch nach wie vor – vor allem im deutschsprachigen Raum – ein weitgehend unbekannter Gegenstand, und zwar sowohl seine Bewegungs- wie auch seine Theoriegeschichte. Wie man den Anarchismus verdrängt, kann man bei Heuer selbst exemplarisch nachvollziehen. Denn im selben Buch erklärt er zu Karl Kautskys Ausführungen zum Ursprung des Christentums: „Kann diese gleiche Dialektik [die Verkehrung vom Unterdrückten zum Unterdrücker] auch in der Sozialdemokratie wirken, fragte Kautsky, fragten sicherlich auch die sozialdemokratischen Leser, für die das Buch ja geschrieben war.“2 Was unerwähnt bleibt ist, dass sich Kautsky vor dem Hintergrund anarchistischer Kritik gegen die Sozialdemokratie zur Beantwortung dieser Frage genötigt sah (und in der Auseinandersetzung u.a. mit dem bekannten Anarchisten Ferdinand Domela Nieuwenhuis stand). Kautsky selbst weist selbst explizit darauf hin, dass „die Attacken der Anarchisten gegen sie [die Sozialdemokratie] nur zu sehr berechtigt“ wären, ebenso wie das zeitgenössische „Erstarken des halbanarchistischen, antisozialdemokratischen Syndikalismus“, wenn die Sozialdemokratie einen herrschaftsförmigen Charakter wie das Christentum annehmen würde. Freilich war sich Kautsky sicher, dass „zum Glück […] die Parallele zwischen Christentum und Sozialdemokratie in diesem Zusammenhang vollständig verfehlt“3 sei.

Uwe-Jens Heuer ist nur ein – und dabei keineswegs drastisches – Beispiel für marxistische Diskurse, die keinerlei Anlass sehen, den Anarchismus in irgendeiner Form zu erwähnen, geschweige denn zu diskutieren. Sofern diese Ausgrenzung bewusst geschieht, mögen – freundlich betrachtet – zwei Gründe eine Rolle spielen: Zum einen die Vorstellung, dass der Anarchismus historisch marginal und unbedeutend gewesen sei, sodass es gerechtfertigt ist, ihn beiseitezulassen. Zum anderen die Vorstellung, dass der Anarchismus analytisch nichts Brauchbares hervorgebracht hat, sodass es sich schlicht nicht lohnt, sich mit ihm theoretisch abzugeben. Es ist hier kein Platz dafür, diesen beiden Behauptungen auch nur ansatzweise nachzugehen. Beide halte ich, wenig überraschend, für falsch. Zwar gab es nur wenige Orte und Zeiten, in denen der Anarchismus eine ausgesprochen starke Bewegung darstellte, er war aber keineswegs eine bloße Randerscheinung, erst recht nicht vor dem Ersten Weltkrieg und vor allem nicht, bevor er im Gefolge des Aufstiegs von Bolschewismus und Faschismus immer mehr in die Defensive geriet. Man kann sogar sagen, dass er um 1968 wieder einen Aufschwung nahm, aber – und dies zeigt, wie sehr zu dieser Zeit schon Sozialismus und Marxismus im historischen Gedächtnis in eins gesetzt wurden – nicht als expliziter Anarchismus, sondern eher als antiautoritäre Kritik am etablierten Staatssozialismus, die sich bisweilen sogar als marxistisch verstand, deren Bezugspunkt jedenfalls oftmals die marxistische Theorietradition bildete. Dabei knüpfte man – implizit und explizit – oftmals an marxistische Autor*innen an, die sich schon in den 1920er Jahren kritisch gegenüber der reformistischen Sozialdemokratie auf der einen und dem Bolschewismus auf der anderen Seite positioniert hatten. Dass aber gerade diese dabei selbst wiederum unausgesprochen Kritikpunkte formulierten, die der Anarchismus schon seit Jahrzehnten am Marxismus und bisweilen sogar schon an Marx formuliert hatte, wurde nicht zur Kenntnis genommen. (Eine nicht unerhebliche Rolle dürfte bei alledem auch spielen, dass kritische Marxist*innen immer schnell in den Verdacht kamen, als anarchistisch beschimpft zu werden, ein Schlagwort, das seit den Tagen der Zweiten Internationale als Disziplinarmittel der Parteien genutzt wurde.4)

Und damit komme ich zu dem zweiten Punkt: die analytische Belanglosigkeit des Anarchismus. „Wir sind gesellschaftliche Wesen, und das wird uns, auch dem ausgeprägtesten Individualisten oder libertären Sozialisten, spätestens dann klar, wenn wir im Stau stehen.“5 Wenn man so wie hier Elmar Altvater Anarchist*innen („libertäre Sozialisten“) belehren zu müssen meint, dann gibt es wahrlich keinen Grund sich mit dem Anarchismus auseinanderzusetzen. Man mag sich trösten, dass dies zumindest sympathischer ist als die Denunziationen früherer Zeiten, wo Anarchist*innen oftmals wahlweise als Spitzel, Narren, Schwätzer oder Banditen von sozialdemokratischer und bolschewistischer Seite beschimpft wurden.6 Aber vielleicht kann man auch bedenken, was Arnold Künzli Mitte der 1970er Jahre betonte: „Nun haben die ‚klassischen’ Anarchisten […] zumindest mit ihrer Kritik an der Marxschen Revolutionstheorie und der Leninschen Revolutionspraxis so verblüffend Recht behalten, dass man sich immerhin fragen muss, welcher Art die philosophischen Voraussetzungen und die daraus abgeleiteten theoretischen Grundsätze sind, die sie zu solcher Hellsichtigkeit befähigten.“7 Man kann sich auch in Anbetracht all jener vermeintlich neuen Theorien im Gefolge von 1968, die sich dann auch in Abkehr vom Marxismus aufseiten der Linken herausbildeten, fragen, inwieweit hier der Sache nach an anarchistische Fragestellungen und anarchistische Diskussionen angeschlossen wurde und wird, und vielleicht sogar nicht einmal das Niveau vergangener Diskussionen erreicht wird. Unter anderen am Beispiel Michel Foucaults ließe sich dies an verschiedenen Punkten zeigen.

All dies sollte nicht als anarchistischer Hochmut verstanden werden oder diesen befeuern. Keine emanzipatorische Bewegung hat bisher ihr Versprechen einlösen können und Schuld daran sind nicht immer nur die Anderen, so modern eine solche Haltung heutzutage auch sein mag. Vielleicht kann es einfach mal interessant sein, die eigene Neugier in Richtung Geschichte zu lenken, denn oft sind unsere neuesten Superideen erstaunlich alt … ebenso wie unsere Probleme. 


1 Uwe-Jens Heuer: Marxismus und Glauben. Hamburg: VSA 2006, S. 172.
2 Ebd., S. 165.
3 Karl Kautsky: Der Ursprung des Christentum [1908], in: www.marxists.org/deutsch/archiv/kautsky/1908/christentum/4-6-sozdem.html (zuletzt aufgerufen am 21.3.2024).
4 Mit dem Londoner Kongress 1896 waren Anarchist:innen endgültig aus der Zweiten Internationale hinausgedrängt worden.
5 Elmar Altvater und Raul Zelik: Vermessung der Utopie. Ein Gespräch über Mythen des Kapitalismus und die kommende Gesellschaft. Berlin: Blumenbar Verlag 2009, S. 27.
6 Selbstverständlich ist es wiederum auch nicht so, dass sich die marxistische Kritik am Anarchismus in solchen Polemiken erschöpften. Hier sollte man es sich aus anarchistischer Perspektive auch nicht zu einfach machen.
7 Arnold Künzli: Tradition und Revolution. Zur Theorie eines nachmarxistischen Sozialismus. Stuttgart: Schwabe Verlag 1975, S. 62.


Philippe Kellermann ist Herausgeber von Ne znam. Zeitschrift für Anarchismusforschung (www.edition-av.de/ne_znam.html) und Autor des Buches Marxistische -Geschichtslosigkeit. Von Verdrängung, Unwissenheit und Denunziation: Die (Nicht-)Rezeption des Anarchismus im zeitgenössisch en Marxismus. Lich/ Hessen 2011 (Edition AV).