In den letzten Jahren habe ich viele Vorträge mit den Worten „Eigentlich“ begonnen. Eigentlich wollte ich diesen Text damit beginnen zu erklären, weshalb einige den Vorschlag Liebe zu organisieren womöglich pathetisch finden könnten. Je länger ich darüber nachdenke, weshalb das wohl einige denken könnten, desto klarer wird mir, welch Luxus es ist, so denken zu können. Welch Luxus es sein muss, zu glauben, es gäbe keinen Bedarf Liebe zu organisieren. Ich frage mich, wer diese Menschen sind, wie sie leben. Ich beneide sie. Denn ich fühle mich unwohl in diesem Land. Ich habe Angst. Ich bin erschrocken über das, was mehr und mehr gesellschafts- und salonfähig wird. Ich versuche mein Unwohlsein zu kaschieren, indem ich über Hass lache. Ihn ignoriere. Ihn wegklicke. Ihn mute. Jeden Tag verbringe ich mindestens eine Viertelstunde nur mit muten auf Twitter – manchmal mehr.
Die Themen, die Fragen, die RechtspopulistInnen, AfDlerInnen, RassistInnen in unsere gesellschaftliche Mitte setzen, stellen unsere, meine Existenz, meine Daseinsberechtigung in Frage. Wir können diese Menschen und ihren Hass nicht ignorieren. Wir müssen sie ernst nehmen. Damit meine ich aber nicht das, was wir seit knapp zwei Jahren tun, nämlich: „Die Sorgen und Ängste der Wutbürger lang und breit zu diskutieren“, sondern ihm endlich Einhalt zu gebieten.
Man kann jede Frage in diesem Land stellen, aber wir müssen nicht JEDE gottverdammte Frage diskutieren. Wir müssen nicht noch einmal diskutieren, ob der Islam, die Muslime zu Deutschland gehören oder nicht. Was ist das für eine Frage? Mit welcher Berechtigung diskutieren wir diese Frage? Sind wir uns dessen bewusst, was wir da in dem Moment in Frage stellen? Unsere Existenz, hier, in diesem Land. Ob wir hier leben, existieren dürfen, ob wir dazugehören – DAS stellen wir zur Diskussion. Und ich frage mich, was, wenn wir irgendwann entscheiden: Nein. Was, wenn die Antwort „nein“ lautet? Was dann? Was ist dann?
Ich habe keine Lust mehr stark zu tun. Ich habe keine Lust mehr, diese Fragen auszuhalten. Ich bin 27 Jahre alt. 15 Jahre, über die Hälfte meines Lebens, habe ich damit verbracht, diese Fragen zu beantworten. Zu verteidigen. Zu erklären. Meine Existens zu rechtfertigen. Eine ganze Generation junger Menschen – Schwarze, Muslime, PoCs – hat es sich zur Aufgabe gemacht, zu erklären, zu verteidigen, zu kommunizieren. Statt Künstlerinnen, Musikerinnen, Ärztinnen, Lehrerinnen – oder einfach nur: Menschen – zu werden, sind wir zu PressesprecherInnen geworden.
Es ist leicht, diese Themen auszublenden, wenn man nicht von ihnen betroffen ist. Wir, Schwarze, PoC, Muslime, Menschen mit Migrationshintergrund – alle, die „Anders“ markiert sind, können das nicht tun. Wir können nicht einfach so tun als gäbe es diese Diskussionen und Fragen nicht. Diese Diskussionen, die wir führen, sind für einige KolumnistInnen oder DenkerInnen womöglich nur Buchstaben, die sich auf ihren Bildschirmen zu Worten und schließlich zu Texten formen. Abstrakte Gedanken, die sie in Schwarz und Weiß gießen. Für uns sind diese Diskussionen Realität. So real, dass wir sie anfassen können. „Eine AfD zu ertragen und zu ignorieren ist ein Privileg, das Schwarze und People of Color nicht haben.“ (Ozan Keskinkilic)
Für den Rest der Gesellschaft wurde diese Diskussion erst real als Pegida auf die Straßen ging. Als sich diese mysteriöse Wolke, diffuse Wolke des Rassismus mit einem Mal materialisierte. Dann erst war sie für andere sichtbar. Ihr habt diese Gesichter zuvor nicht gesehen. Denn euch haben diese Gesichter zuvor angelächelt. Zu euch waren sie womöglich freundlich, gar zuvorkommend. Die hasserfüllten Gesichter, unsere Realität, waren für euch zuvor unsichtbar. Viele reagierten damals erschrocken. Und sie reagierten richtig. Gut. Stark. Indem sie in Massen auf die Straßen gingen – in viel größeren Massen als Pegida selbst. Das machte und macht Hoffnung.
Ich habe keine Lust mehr Putzfrau der Nation zu sein. Den Gedankendreck anderer zu putzen. Immer und immer wieder. Auf jeden Vorwurf zu reagieren. Selbstverständlichkeiten beweisen zu müssen, wie dass Muslime auch nur Menschen sind. Beweisen, dass wir demokratisch und liberal sein können – das wir dazugehören. Hierher gehören. Ich bin es Leid, im Kollektiv denken zu müssen. Muslime, Schwarze, PoCs können niemals „ich“ sein, sie sind immer „wir“. Sie können nicht für sich sprechen, ohne für alle anderen in ihrem Kollektiv zu sprechen. Meine zentrale Lebensaufgabe ist es nicht, anderen hinterher zu räumen, ständig irgendetwas Hirnrissiges, das sie fahrlässig oder vielmehr bewusst und hasserfüllt in die Welt gespuckt haben, sauber zu wischen.
Wir können es uns nicht mehr leisten, leise zu sein. Wir können es uns einfach nicht mehr leisten. Im letzten Jahr gab es in Deutschland mehr als 520 Übergriffe auf Flüchtlingsunterkünfte. Darunter 120 Brandanschläge – das entspricht 10 pro Monat, dabei 150 Körperverletzungen. Deshalb müssen wir Liebe organisieren. Denn der virtuelle Hass ist real. Wir müssen Liebe organisieren. Denn Hass ist in diesem Land organisiert.
Januar 2016. Deutschland befindet sich in einer Schockstarre. Seit Jahrzehnten – ein eigentlich altes, jahrhundertealtes koloniales Bild – wird das Horrorszenario gezeichnet von den wilden, triebgesteuerten schwarzen oder muslimischen Männern, die über Deutschland herfallen, plündern und Frauen vergewaltigen. Und dann geschah Köln.
In der Silvesternacht 2016 wurden in Köln, aber auch in verschiedenen anderen deutschen Großstädten, dutzende Frauen Opfer sexualisierter Gewalt. Wenige Tage danach – noch bevor Genaueres bekannt war –, verbreitete sich vor allem eine Nachricht wie im Lauffeuer: Es seien Flüchtlinge gewesen.
Eine Masse an geflüchteten Männern sei in großen Gruppen über deutsche Frauen hergefallen. Von tausenden Männern war die Rede. Massenvergewaltigungen. Männermassen, vor denen selbst die Polizei kuschte. Schwarze, muslimische, nordafrikanische Männer, sittenlos und verfallen, gewalttätig und unberechenbar, die das deutsche Recht mit Füßen treten, streckten einen riesengroßen Mittelfinger in das Gesicht des dankbaren, aufnahme- und hilfsbereiten Deutschland. Und damit schien sich das Horrorszenario, die Prophezeiung bewahrheitet zu haben. Schock. Starre. Schockstarre.
Vor allem für all jene, die für ein hilfs- und aufnahmebereites Deutschland stehen. Der Vorwurf des fahrlässig naiven Gutmenschentums war ihnen gegenüber noch nie so stark, in die Knie zwingend gewesen. Man hatte sie ja vor den Flüchtlingen gewarnt. Man hatte ja prophezeit. Und nun hatten sie recht bekommen: Die rechtskonservativen, rechtspopulistischen Politikerinnen und Politiker und Publizierenden. In den darauf folgenden Tagen waren ihre Stimmen am lautesten. Solche Menschen, die vor der Silvesternacht Sexismus verharmlost und Feministinnen ins Lächerliche gezogen hatten, stellten sich nun an die Spitze des Kampfes um die Rechte der Frau, die Verteidigung der weißen deutschen Frau, ihre Frauen. Sie vereinnahmten die Debatte für sich und instrumentalisierten den Sexismus für ein rassistisches Narrativ. Das des sexistischen Ausländers: Eine Gefahr für das sexismusfreie Deutschland. Ihrem Narrativ zufolge drohte dem liberalen, fortschrittlichen Deutschland nun der importierte Sexismus der rückständigen Barbaren.
Dieses Muster ist nicht neu. Wir zeichnen gerne ein Bild des reinen, fortschrittlichen, aufgeklärten und vorbildlichen Deutschlands. Ein überhöhtes, idealisiertes, eigentlich fiktives Deutschland. Ein Bild, dem Deutschland, die Deutschen nicht entsprechen. Von Menschen, die „deutsch“ werden wollen, erwarten wir nichts Geringeres als dass sie diesem überzogenen Bild zu entsprechen haben. Sie müssen dem deutschen Ideal entsprechen, deutscher sein als Deutsche, deutscher sein als Deutschland, um von eben jenen als solche – vielleicht – anerkannt zu werden.
Probleme wie Gewalt, Sexismus oder Antisemitismus sind demnach importierte Probleme. Ihre Ursprünge liegen woanders, nicht in Deutschland. Und damit liegt auch die Verantwortung und Lösung bei den Anderen, den Fremden, in ihren anderen Kulturen, Ländern, Ethnien und Religionen.
Die Instrumentalisierung und Externalisierung dieser Missstände verhindert die nachhaltige Lösung eben dieser. Wenn wir Sexismus nur dann anprangern und problematisieren, wenn die Täter „die Anderen“ sind und die Opfer die eigenen „deutschen“ Frauen, dann sind wir scheinheilig, wenn nicht gar rassistisch. Wenn Missstände nur dann wahrgenommen werden, wenn sie ein rassistisches Narrativ pflegen, dann ist das Interesse daran ein rein opportunistisches, es dient lediglich den eigenen politischen Interessen.
Deshalb starteten wir zusammen mit anderen Feministinnen #ausnahmslos. Weil wir gegen sexualisierte Gewalt stehen. Aber ausnahmslos. Immer. Und überall.
Daraufhin organisierte sich Hass. Der Hass hat uns unsere Leichtigkeit genommen. Die Unbeschwertheit. Die Freiheit. Hass gehört zum Leben, könnte man sagen. Hass gehört auch ins Netz, könnte man sagen. Ist das so selbstverständlich? So unausweichlich? So unumgänglich? Können wir nicht die Selbstverständlichkeit von Hass diskutieren, statt diejenigen, die ihn problematisieren? Können wir unserem Umgang im Netz nicht neu denken? Denn der Hass im Netz ist nicht nur ein Spiegel unserer Gesellschaft. In den vergangenen Jahren war er auch Vorbote für das, was uns offline erwartete. Ein Ort der Radikalisierung. In alle Richtungen. Wir haben die Entwicklungen im Netz viel zu lange belächelt. Verharmlost.
Warum müssen wir Liebe organisieren? Weil wir Werte wie Freiheit, Gerechtigkeit, Demokratie, friedliches Miteinander nicht gepachtet haben. Sie sind nicht selbstverständlich. Und deshalb müssen wir sie gegenüber Extremismus jeder Art beschützen. Nicht wie im vergangenen Jahr, als allein in den ersten sechs Monaten Anschläge auf mehr als 20 Moscheen verübt wurden und sich eine gähnende Stille breitmachte. Sondern wie vor zwei Jahren, als die Gegendemonstrationen zu Pegida größer waren als Pegida selbst.
Wir, die Gesamtgesellschaft, müssen lauter sein als diejenigen, die Hass verbreiten und Ressentiments schüren. Indem wir uns klarer positionieren. Indem wir uns rechtzeitig empören und wachsam sind. Denn wenn sich Menschen für ihre rassistischen Äußerungen nicht mehr schämen, dann sind wir mit unserer Empörung zu spät dran.
Der Hass macht uns träge. Lethargisch. Er lässt uns zweifeln, verzweifeln. Dabei sind wir viel, viel mehr. Wir könnten viel, viel lauter sein. Die organisierte Liebe ist ein politisches Werkzeug:
1. Verbreitet Informationen gegen Populismus; verbreitet Artikel, Medien, Bilder, Texte, Filme, Informationen, die gegen den Populismus arbeiten. Die das repräsentieren, wofür ihr steht.
2. Betreibt Aufklärung – die Verantwortung gegen Vorurteile und Ressentiments zu arbeiten, liegt nicht bei den Betroffenen, sondern bei der gesamten Gesellschaft. Wo kämen wir hin, wenn nur Juden und Jüdinnen gegen Antisemitismus, nur Schwarze gegen Rassismus arbeiten würden?
3. Zeigt Empathie! Es ist so einfach, online Menschen zu entmenschlichen, zu dehumanisieren. Sie auf ein Erlebnis, eine Begebenheit, ihre Hautfarbe, Herkunft oder Religion zu reduzieren.
Wir müssen Liebe organisieren, weil das Schweigen im Angesicht des lauten Hasses ein Zustimmen ist.
Kübra Gümüsay hat Politikwissenschaften in Hamburg und London studiert und schreibt als freie Autorin für Die Zeit, taz, u.a.