Kunst schafft Erinnerung

Zur (Wieder-)Entdeckung verfemter Kunst und Künstler:innen

Über eine Generation der Vergessenen rollt gerade eine Welle der Wiederentdeckung. In Museen lenken Ausstellungen die Aufmerksamkeit auf Kunstschaffende, die während des Nationalsozialismus ausgegrenzt, verfolgt, vertrieben und ermordet wurden. So finden ihre Werke nach langer Zeit wieder ein Publikum.

Die Kabinettausstellung Hier bin ich – Meidner, im Jüdischen Museum Frankfurt (8. 5. 2022 – 8. 2. 2023), fiel in den Schein dieser neuen Aufmerksamkeit. Ludwig Meidner wurde als Expressionist in Berlin gefeiert, als Jude von den Nationalsozialisten als „entartet“ diffamiert. Als Emigrant im Londoner Kunstbetrieb wurde er ignoriert, bevor er 1953 nach Deutschland zurückkehrte und versuchte, an ehemalige Erfolge an-zuschließen. Teil der Ausstellung waren Papier-arbeiten, die im Exil entstanden. Meidners Humoresken zeigen Orte der Begegnung: Cafés, Bars und Theater. Ein Kellner, halb Hahn, halb Mensch; Frauen, die ihre Nacktheit zur Schau stellen; gierige und verschämte Männer mit tierischen Köpfen. Alltägliches mischt sich in den Darstellungen mit grotesker Szenerie. Auf anderen Aquarellzeichnungen versammelt Meidner Insekten, die ebenso in Alpträumen spuken könnten. Seinen Insekten und Zwitterwesen haftet zwar etwas Fabelhaftes an. Doch vermögen Fabeln die Erfahrung einer zutiefst widersprüchlichen Zeit manchmal treffender auszudrücken als Abbilder der Realität. Diese Papierarbeiten gehören zu den privatesten Werken des Künstlers, bis heute sind sie vielen unbekannt. Zum einen, weil sie nicht unbedingt das sind, wofür der Maler bekannt sein wollte. Zum anderen, weil Meidners Verschwinden aus der Öffentlichkeit in ein Phänomen der Nachkriegsjahre fällt, dem das Deutsche Historische Museum (DHM) mit der Ausstellung Documenta. Politik und Kunst (18. 6. 2021 – 9. 1. 2022) nachging.

Die seit 1955 stattfindende documenta in Kassel verfolgt seit ihrem Bestehen den Anspruch, Einblicke in gegenwärtige künstlerische Tendenzen zu geben. Die Ausstellung im DHM setzte Kunst und Geschichte der Nachkriegsjahre in ein Wechselverhältnis, das Fragen zum Umgang mit „entarteten“ Künstler:innen in der jungen BRD bis zum heutigen Tag aufwirft. Der Expressionist Rudolf Levy, ein Zeitgenosse Meidners, ist seit dieser Ausstellung dem breiteren Kunstpublikum wieder ein Begriff. Levy prägte die westliche Moderne mit und war zu Lebzeiten bekannt. Der jüdische Künstler kam 1944 während seiner Deportation zum Konzentrationslager ums Leben. Sein Schicksal verhandelte das Museum exemplarisch für das Verdrängen und „Vergessen“ der Kunst und Biografie eines Juden, den die Nazis ermordeten. Die Schau nahm die Kanonbildung der westlichen modernen Kunst nach dem Zweiten Weltkrieg ins Visier. Recherchen, die der Ausstellung zugrunde lagen, zeigten auf, wie das Verstecken-Wollen der eigenen (Mit-)Täterschaft von Personen und ganzen Institutionen auf diese Weise lange Zeit Erfolg hatte.

Vermehrt entdecken Museen Kunst als Vehikel, um überhörten Stimmen aus der Vergangenheit Gehör zu verschaffen. Kunstwerke und Biografien bieten eine Schnittstelle von individueller Erinnerung und historischen Ereignissen, die sich eignet, um dem Publikum damalige Lebensumstände und Gefühlswelten näher zu bringen. Auf ihren Lesungen spricht die Holocaustüberlebende Margot Friedländer nachfolgende Generationen emotional an, wenn sie von ihrer Jugend, vom Untertauchen und der Haft im Konzentrationslager berichtet. Auf ähnliche Weise ermöglichen Ausstellungen im Wechselspiel von Kunst und Biografie einen Zugriff auf individuelle Erinnerungen an eine Vergangenheit, die das Publikum selbst nicht durchlebt hat. In Paris Magnétique. 1905–1940 (25. 1. – 1. 5. 2023) erzählte das Jüdische Museum Berlin mit einer Dichte an Kunstwerken und Biografien fragmentarisch von einer schöpferisch-fiebrigen Atmosphäre der Pariser Avantgarde. Das Publikum gewann ein Bewusstsein für den wesentlichen Beitrag migrantischer und marginalisierter Künstler:innen an der westlichen Moderne. Die Ausstellung sprach die Besuchenden kognitiv und emotional an; vermittelte ihnen den Verlust, der sich aus der späteren Diffamierung und Zerstörung der Kunst und einer Verfolgung und Ermordung vieler Künstler:innen ergibt, von denen die meisten zu „Vergessenen“ wurden.

Ausstellungen wie diese stellen möglicherweise eine Alternative zu einem kommunikativen Gedächtnis dar, dessen letzte lebendige Träger:innen nach und nach sterben. Denn der Gang durch eine Kunstausstellung kann die Besuchenden empfänglich machen für die Vergangenheit – und sensibilisieren für die eigene Gegenwart. Es lohnt sich, über innovative Ausstellungspraktiken nachzudenken, um noch viele weitere „Vergessene“ und komplexe Kontaktzonen der Geschichte sichtbar zu machen. Raphael Gross, Direktor des DHM, erzählte in einem Zeitungsinterview, dass sein Haus eine Ausstellung plane, in der Nationalsozialismus und Kolonialismus zusammen verhandelt werden. Es gibt viele – teils vergessene – Biografien und Kunstwerke, die jene historischen und kulturellen Schnittstellen in sich tragen.


Asta von Madelsloh hat Philosophie und Anthropologie (Berlin, London) sowie Curatorial Studies (Frankfurt, Jerusalem) mit Schwerpunkt auf kulturelle Erinnerung studiert. Sie schreibt für verschiedene Zeitschriften und erarbeitet als Kuratorin Ausstellungen und sammlungsbezogene Projekte u.a. für das Jüdische Museum Frankfurt.