Kreativität als „Erfordernis jeder sozialen Gemeinschaft“ (Holm-Hadulla) ist in den Mittelpunkt sozialer und politischer Auseinandersetzungen gerückt. Dass der Begriff zwischen anthropologischer Ausstattung und sozialer Anforderung oszilliert und in persönlichen Beziehungen ebenso gefragt und gefordert ist wie im Jobprofil oder in Künstlermythen, erfährt man bereits in einführenden Werken wie jenem von Rainer M. Holm-Hadulla. Aber es ist noch komplizierter. Es gibt ein neues gesellschaftliches Regime, das „Kreativitätsdispositiv“. Der Soziologe Andreas Reckwitz hat in seinem beeindruckenden Grundlagenwerk die wesentlichen (historischen wie theoretischen) Elemente dieses Dispositivs herausgearbeitet, das sich in den westlichen Gegenwartsgesellschaften seit den 1980er Jahren in Form einer umfassenden Ästhetisierung entwickelt hat. Die Künste und ihre Diffusion trugen dazu ebenso bei wie die Medienrevolution, Kapitalisierung und Kommerzialisierung und eine Konzentration von Praktiken und Diskursen auf das Subjekt. Kreativität ist darin ein Fluchtpunkt für das Verständnis des Sozialen. Auch Gerald Raunig und Ulf Wuggenig haben in ihrem Sammelband Kreativität bereits als „zentrale postfordistische Subjektivierungsweise“ ausgemacht. In den zum Modell gewordenen Creative Industries, so Raunig in seinem Beitrag, findet eine „ständige Anrufung der Produktivität des Individuums“ statt. Dennoch wird hier keinesfalls ein Regime ohne Ausweg skizziert. So verweist etwa Marion von Osten auch darauf, dass künstlerische Lebens- und Arbeitsformen „nicht komplett kontrollierbar“ sind. Der Widerstand, ließe sich optimistisch herauslesen, ist den Kreativsubjekten immer auch eingeschrieben. Der Band jedenfalls dürfte zu Recht zum Standardrepertoire der kritischen Debatte um das Thema gehören.
Chiara Bottici gehört zu jenen protoanarchistischen Intellektuellen, die das emanzipatorische Potenzial imaginativer, kreativer Prozesse betonen. Ihre Studie Imaginal Politics lotet die kollektiven (und nicht nur individuellen) Vorstellungskräfte vor dem Hintergrund ihrer philosophischen Konzeptualisierungen aus und mündet in einer Würdigung der globalen sozialen Bewegungen der letzten Jahre. Innovativer Dreh- und Angelpunkt ist dabei die Bildlichkeit (the imaginal), denn „without images there can be neither a world for us nor a subject for he world.“ Auch in dem Band von Menke und Rebentisch geht es u.a. um Strategien, der „Kehrseite dieser Überforderung“ (Rebentisch) durch den permanenten Kreativitätsimperativ zu begegnen. Diese andere Seite heißt nämlich Depression. Nach einigen Basistexten zur Debatte und Beiträgen zur Diskussion, die das Buch zu einem äußerst empfehlenswerten machen, wird Folgendes geraten: „Die disziplinierenden Momente der Deregulierung und Vernetzung zu begreifen und die in der projektbasierten Polis erworbenen Kompetenzen aus ihrer gouvernemental gesteuerten Selbstbestimmung freizusetzen“ (Tom Holert). Oder auch: die „Re-Politisierung, Re- Objektivierung, Re-Reifizierung von Fähigkeiten, Skills, Wissen“ (Diedrich Diederichsen). Also bitte.
Jens Kastner ist Soziologe und Kunsthistoriker und lehrt an der Akademie der bildenden Künste Wien.
www.jenspetzkastner.de
Chiara Bottici: Imaginal Politics: Images Beyond Imagination and the Imaginary. Columbia University Press, New York 2014.
Rainer M. Holm-Hadulla: Kreativität – Konzept und Lebensstil. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2007.
Christoph Menke/ Juliane Rebentisch (Hg.): Kreation und Depression: Freiheit im gegenwärtigen Kapitalismus. Kulturverlag Kadmos, Berlin 2010.
Gerald Raunig / Ulf Wuggenig (Hg.): Kritik der Kreativität. Verlag Turia + Kant, Wien 2007; Neuauflage bei transversal texts 2015: http://transversal.at/books/kritikderkreativitaet
Andreas Reckwitz: Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung. Suhrkamp Verlag, Berlin 2012.