… Kränkungen und Scham aus der Einsamkeit des Persönlichen zu befreien …

Melancholia (von links) im Gespräch mit Ivana Pilić und Berthold Molden

Bildpunkt: Der Historiker Enzo Traverso versucht, kurz gesagt, die Melancholie angesichts historischer Niederlagen der Linken als Kraft für neue, utopische Entwürfe stark zu machen. Ganz allgemein gefragt: Seht ihr melancholische Aspekte des Politischen und wenn ja, wie seht ihr sie?

B. M.: In jenen Zeiten, als sozialistische, kommunistische, anarchistische Bewegungen sich machtvoll entwickelten, sprachen linke Geschichts- und Zukunftsbilder siegessicher von einer unvermeidlichen Entwicklung. Angesichts dessen erschließt sich mir jedenfalls heute das revolutionäre Potential der Melancholie nicht. Blicken wir dagegen auf postkoloniale Geschichtspolitik, so finden wir ganz andere Bezugnahmen utopischer Forderungen auf eine Geschichte der Niederlagen. Das gescheiterte Projekt der Neuen Internationalen Wirtschaftsordnung – 1974 der Höhepunkt global-südlicher Realmacht in der UNO vor dem neoliberalen Backlash – dient etwa den Erb:innen der Trikontinentalen Bewegung als Motivation für fortgesetzten Widerstand, nicht für Melancholie. Enzos faszinierende politische Ideengeschichte will wohl eher unseren melancholischen Blick auf die Niederlagen in einen utopiefähigen verwandeln.

I.P.: Melancholie ist ein starkes Gefühl, das ich primär mit Erfahrungen von Verlust oder Verlorenem verbinde – aber auch mit Niederlagen. Und dennoch sind diese spezifisch-melancholischen Erfahrungen oftmals ein Sehnsuchtsort, was auf den ersten Blick skurril anmutet. Ich erkläre mir das damit, dass Melancholie anders als tiefe Traurigkeit mit einer inneren Kraft verbunden ist – es ist eben kein Absturz in das ganz Dunkle; mehr ein Innehalten oder eine Durchlässigkeit, die hilft, das Verdeckte oder auch Verleugnete aus seiner Sprachlosigkeit zu befreien. In dieser Befreiung steckt für mich immer ein politischer oder sogar stärker emanzipatorischer Moment.

Bildpunkt: Ivana, Du beschäftigst dich mit „diskriminierungskritischen Kunstpraxen“ und Fragen der Partizipation im kulturellen Feld. Ist für die Forderung nach Inklusion und für die Veränderung der Feldstrukturen ein melancholisches Moment – sei es nostalgisch, sei es passiv-verweigernd – relevant?

I.P.: Der Beschäftigung mit Diskriminierung und Ausschluss wohnt – sofern sie ernstgemeint ist – immer ein Moment der Melancholie inne. Der Hype um Diversity kommt gegenwärtig oftmals als New Management Tool daher. Die historischen und aktuellen Kämpfe marginalisierter Akteur:innen, die sich mit ihren Körpern, ihren Erfahrungen und ihrem Wissen aufgelehnt haben, werden dabei gewaltvoll ausgeblendet. Eine politische Melancholie, die den Schmerz, die Wut der Ausgeschlossenen spürt, die die Müdigkeit und die Erschöpfung wahrnimmt, ist hier ein zentrales Widerstandsmoment. In der politischen Melancholie sehe ich dementsprechend eine Möglichkeit des Anknüpfens an politische Bewegungen und Kämpfe. Dabei ist sie nostalgisch-erinnernd, sie kann auch die Kraft dafür geben – nicht nur individuell –, um mich einer kollektiven Praxis des Widerstands und Beanspruchens anzuschließen. Aber auch individuell scheint mir ein melancholischer Moment des Innehaltens wichtig: In Bezug auf verinnerlichten Rassismus, Sexismus oder Klassismus etwa braucht es Raum, um den verinnerlichten Selbsthass wahrzunehmen. Die eigenen Kränkungen und die Scham aus der Einsamkeit des Persönlichen zu befreien und sie mit gesellschaftlichen Verhältnissen, die sie ausgelöst haben, zu verbinden, ist nicht nur von politischer Bedeutung. Es hat auch eine liebevolle Dimension im Umgang mit sich selbst, da es das Erlebte und die Kränkung, die einer widerfährt, anerkennt.

Bildpunkt: Berthold, Du arbeitest seit Jahren zu Geschichts- und Erinnerungspolitiken. Du beschreibst die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit als Teil gegenwärtiger Dominanzverhältnisse, etwa in einem Text zu „Geschichtspolitik und Erinnerungskultur im Ringen um Hegemonie“. Welche Rolle kommt der Melancholie dabei zu?

B.M.: Geschichtspolitik lässt sich als Feld gesellschaftlicher Auseinandersetzung um Ideen hegemonietheoretisch betrachten. Neben den denkbestimmenden Interpretationen – wie etwa der nun schon lange als alternativlos etablierten neoliberalen Erzählung – und vormals mächtigen, aber in die Defensive gedrängten – eben linken – Geschichtsbildern existiert eine breite Masse von Erfahrungsgemeinschaften, die sich zwar von „offiziellen“ Erinnerungskulturen nicht repräsentiert fühlen, aber auch keinen Widerstand im Foucaultschen Sinn der Gegenerinnerung leisten. Die Ursache ist nicht einfach Trägheit, sondern der Zweifel daran, etwas verändern zu können. Dieses gewissermaßen melancholisch gebundene Reservoir von Handlungsmacht könnte für linke Utopien aktiviert werden. Das Problem scheint mir eher die multiple Spaltung linken Denkens zu sein, die die Mobilisierung dieses Potentials verhindert.

Bildpunkt: Der Soziologe Wolf Leppenies hatte in seinem Buch Melancholie und Gesellschaft (1969) der Melancholie einen widerständigen Aspekt zugeschrieben. Trauer und Traurigkeit, Passivität, ja selbst Langeweile seien demnach als Kräfte gegen die „total verplante Gesellschaft“ in Anschlag zu bringen. Können wir daran anknüpfen?

B.M.: Das passt gut zur vorherigen Frage. Lepenies zufolge hat die Melancholie – analog zur Wechselstromvorstellung vom Manisch-Depressiven – das Potential, in Aktivität umzuschlagen. Die Intellektuellen verlassen den Grübelturm, formulieren eine Utopie und kämpfen dafür. Werden also Strateg:innen und letztlich Kombatant:innen im gegenhegemonialen Stellungskrieg. Letztlich ist es aber eine Frage der Strahlkraft, wie viele Menschen solche Utopien erreichen können. Lange Zeit – und, wenn auch bereits abnehmend, auch noch 1969 – brauchte es dafür Massenparteien mit ihren Zeitungen und Propagandaabteilungen. Heute sind die zentralen Disseminationsakteur:innen vor allem Medien im Privatbesitz, populäre Radio-Hosts und individuell agierende Influencer:innen und Blogger:innen. Die Allianzbildung ist schwieriger geworden, und eben nicht nur weil Sozialdemokratie und Alternativparteien wie die Grünen weitgehend das wirtschaftsliberale Grundkonzept übernommen haben.

I.P.: Emotional ist es mir fast zu stark formuliert. Da verspüre ich als Kind meiner Zeit – bei den Begriffen Passivität und Langeweile – auch einen inneren Widerstand. Dennoch kann ich dem widerständigen Aspekt mehrfach etwas abgewinnen. Es braucht Raum, um die eigene Durchlässigkeit zu kultivieren. Schmerz und Ungerechtigkeit zu spüren und nicht darüber hinwegzusehen, braucht eine Verlangsamung, eine Passivität und Traurigkeit. Es braucht auch die Kultivierung einer aktiven Passivität, aktiv, weil Trauer zuzulassen sich nicht im Tun verausgabt und dennoch ein Kraftakt ist. Insofern kann man auch aus ihm schöpfen.

Bildpunkt: Durch die Pandemie hat sich die Zahl depressiver Verstimmungen und Erkrankungen erhöht, die Linke hat eine weitere Spaltung zwischen Befürworter*innen staatlicher Maßnahmen und solidarischer Rücksichtnahme einerseits und rebellischen, auf individuelle Autonomie und gegen staatliche Kontrolle gerichteten Haltungen andererseits. Gibt uns Melancholie da nicht den Rest, statt uns Perspektiven zu eröffnen?

I.P.: Melancholie sehe ich mit Blick auf die letzten Jahre – wenn ich nur an die Toten im Mittelmeer, die Menschen in Moria denke – und den aktuellen Kriegszustand in der Ukraine inklusive gegenwärtiger atomarer Bedrohung als die einzige Möglichkeit, nicht zu verzweifeln. Zu groß scheint mir derzeit die Ohnmacht und der Kummer, den ich – wie viele – angesichts der verselbstständigten Gewalt spüre. Die Perspektiven haben sich noch nicht eröffnet, aber vielleicht ist es auch das Innehalten, das gegenwärtig politisch fehlt – und dann wird es zur politischen Strategie, die Ohnmacht zuzulassen.

B.M.: Ich las gerade László Krasznahorkais Melancholie des Widerstands aus dem Jahr 1989. Zynisch beschrieb er darin eine ungarische Apokalypse – ohne auf den konkreten Regimezerfall Bezug zu nehmen – und die wehrlosen Rückzugshandlungen der Leute. Widerstand wird da nicht gegen bedrohliche gesellschaftliche Entwicklungen gerichtet, sondern gegen jeden politischen Akt selbst, der in sich eine redundante Geste sei, sinnlos deshalb, weil jene Frage, auf die ein solcher Akt Antwort geben sollte, vermutlich schon immer die falsche ­Frage gewesen sei. Linke Melancholie im Spätkapitalismus scheint mir ähnlich morbid.

 


Ivana Pilić ist Kuratorin und Kulturwissenschaftlerin. Sie promoviert am Schwerpunkt Wissenschaft und Kunst der Universität Salzburg.

Berthold Molden ist Historiker und arbeitet meist in Wien.


Das „Gespräch“ wurde im Februar und März 2022 von Sophie Schasiepen und Jens Kastner geführt.