Koloniale Kontinuität im Alltag: Die Inszenierung des Exotischen

Der folgende Text beleuchtet zunächst meine Gedanken, Motivation und Emotionen, die hinter dem Schreiben dieses Artikels standen. Zu Beginn war ich argwöhnisch und zwiegespalten, über das Thema Exotismus zu schreiben. Als ich den ersten Entwurf dieses Artikels verfasste, war ich von dem Gedanken beunruhigt, ob ich die Sensationsgier weißer Menschen und ihre weiße Schaulust bedienen würde. Wie kann ich einen Kurzartikel verfassen, der meine tatsächlichen Gedanken darstellt und primär BiPoC-Personen anspricht, ohne auf die Anerkennung weißer Menschen beharren zu müssen? Wir alle werden (un)bewusst durch eurozentrische Strukturen sozialisiert, sowohl weiße Menschen als auch BiPoC-Menschen. Für BiPoC-Autor*innen bedeutet das beispielsweise, dass sie oft eine bewusste oder unbewusste weiße Perspektive einnehmen müssen, um primär weiße Leser*innen gedanklich abzuholen. Denn die Bewertung durch weiße Menschen beeinflusst maßgeblich die Kreativität und den inhaltlichen Anspruch der BiPoC-Autor*innen. Im Kontext von Rassismus werden nicht nur Sachlichkeit, sondern auch vermeintliche Objektivität, Authentizität und Urteilsvermögen in Frage gestellt. Genau diese Reflektion verdeutlichte mir, dass selbst in unseren gedanklichen Ausarbeitungsprozessen weißen Menschen ein Platz eingeräumt wird. Dies erscheint mir ironisch. Selbst bei Themen, die den Rassismus kritisch beleuchten, werden weiße Menschen stets als primäre Zielgruppe angesprochen. Doch diesmal weigere ich mich jeden Satz bis ins kleinste Detail zu überprüfen. Beim Verfassen dieses Textes denke ich in erster Linie an mein jüngeres Ich, meine Nichte und alle zukünftigen BiPoC-Personen, die sich in diesem Artikel möglicherweise wiedererkennen.

„Fremde Gefahr“ und „faszinierendes Fremdes“

„[Rassifizierte ethnische] Frauen sind genau mein Typ!“, „Ich wünschte ich wäre genauso braun wie du!“ – Exotismus wird häufig als eine harmlose Form der Diskriminierung abgetan. Vielen scheint nicht bewusst, dass der Blick auf vermeintlich Exotisches in der kolonial-europäischen Geschichte verwurzelt ist. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage: Wo genau verläuft die Grenze zwischen ‚Exotismus’ und ‚Rassismus‘?

Wird die Wortherkunft beachtet, dann bedeutet exotisch „ausländisch“, „fremdländisch“ oder „überseeisch“ und fand im 20. Jahrhundert Eingang in die deutsche Sprache. Die Wahrnehmung von etwas als vermeintlich „exotisch“ ergibt sich oft aus dem, was nicht als exotisch betrachtet wird: BiPoC und/oder Jüd*innen werden exotisiert, während weiß-christliche Personen dies nicht werden. Dies weist darauf hin, dass dem Prozess der Rassifizierung hier eine bedeutende Rolle zukommt. Da „exotisch“ somit eine rassifizierte Kategorie ist, ist es wichtig, von der Praxis der Exotisierung zu sprechen, auch bekannt als Exotismus. Rassismus wird dahingehend üblicherweise mit Hass, Gewalt und Nationalismus in Verbindung gebracht, um möglichst eine vermeintlich „fremde Gefahr“ fernzuhalten. Während Rassismus eher negativ konnotiert ist, wird Exotismus als gutwillige Bestrebung wahrgenommen, dem „faszinierenden Fremden“ lediglich näher kommen zu wollen, und wird daher positiv betrachtet.

Uns BiPoC-Personen wird oft entgegnet, dass die Zuschreibungen des Exotischen etwas Positives seien. Es scheint, als bräuchten weiße Personen den Exotismus, denn eine Alternative scheint zu sein, uns weiterhin als „fremde Gefahr“ abzutun.

Der „mysteriöse fremde Körper“

Die weiß-christliche Gesellschaft scheint eine Legitimierung zu benötigen, um dem „mysteriösen, fremden Körper“ als halbwegs akzeptabel zu begegnen. Tatsächlich sind Exotismus und Rassismus untrennbar miteinander verbunden. Exotismus ist ein wesentlicher Teil von Rassismus. Auch in der heutigen Zeit werden die Körper Schwarzer, indigener, jüdischer Menschen und Menschen of Color weiterhin durch den kontinuierlichen (kolonial)-weiß-christlichen Blick degradiert, mit abwertenden Zuschreibungen markiert und gleichzeitig als faszinierend betrachtet. Exotisches wird mit Unbekanntem, Genuss, Lust als auch Aufregung assoziiert. Eine Vorstellung des Exotischen in der Werbung oder Filmen soll bei Konsument*innen ein Verlangen nach Fremdem wecken. Da Exotismus oft mit einer Ästhetisierung einhergeht, kann sie eine erotisierende Form annehmen – eine erotische Exotisierung. Infolgedessen können beispielsweise BiPoC-Personen eine rassifizierte Form der Ästhetisierung ihrer Sexualität erleben. Gespräche mit anderen rassifizierten Frauen über die rassifizierte Ästhetisierung unserer Sexualisierung und Körper führe ich immer wieder. Die Tatsache, dass unsere Körper regelrecht als „fremd“ und „mysteriös“ wahrgenommen werden und erst dadurch als äußerst anziehend oder erotisch gelten, erschüttert uns und unser Selbstwertgefühl. Je nach ethnischer Zugehörigkeit werden rassifizierte Frauen entweder mit Hypersexualität, Unreinheit oder sexueller Unfreiheit in Verbindung gebracht. In Deutschland erlebe ich wiederholt, dass ich entweder als Brasilianerin, hypersexuell, dominant und leidenschaftlich oder als Inderin, traditionsbewusst, unfrei und submissiv wahrgenommen werde. Im Kontext der Retterdiskurse weißer Männer oder weißer Feminist*innen schwingt außerdem die Herabsetzung mit, dass BiPoC-Personen ein lediglich „gestörtes Verhältnis“ zu ihrer eigenen Sexualität und Körpern haben können. Diese Projektionen können jedoch für BiPoC-Personen äußerst gefährlich sein. Im Kontext des Datings und der Liebe stellen wir Frauen uns oft die Frage, welche Absichten Männer haben, wenn sie uns ansprechen mit Begriffen wie „Schokolade“, „Mocha“, „Pocahontas“, „exotisch“ oder „leidenschaftlich“, oder wenn sie uns nach unserer Herkunft fragen. Denn uns ist bewusst, dass wir aufgrund unserer ethnischen Zugehörigkeit oder äußerlichen Merkmale aus einem eurozentrisch-männlichen Standpunkt bewertet, hierarchisiert und kategorisiert werden.

Decolonize your mind!

Ich meine, es war im Jahr 2015, als die deutsche Künstlerin Hilal Moshtari ein Kunstwerk auf ihrem Instagram-Kanal teilte mit der Aufschrift: Decolonize your mind! (Dekolonisiert euren Geist/ eurozentrische Denkmuster; oder im Kontext des akademischen: dekolonisiert intellektuell-akademisches Wissen). Ich erfuhr zum ersten Mal von diesem Aufruf und spürte sofort ein Gefühl der Ermächtigung. Decolonize your mind war für mich eine Ermutigung, erlernte unbewusste diskriminierende Strukturen zu erkennen, vorherige Ängste und Denkmuster lösen und umlernen zu können, und weiß-patriarchale Erwartungen, die an mich gerichtet wurden, nicht akzeptieren zu müssen. Audre Lorde sagte einmal: „I learned that if I didn’t define myself for myself, I would be crunched into other people’s fantasies for me and eaten alive.” Dies hat mir gezeigt, wie wichtig es ist, meine eigene Definition von mir selbst zu finden, um nicht in die Fantasien anderer über mich hineingezogen und letztlich „aufgefressen“ zu werden. Daher habe ich begonnen, die abwertenden Begriffe, die weiße Menschen auf uns projiziert haben, zu rekonstruieren und umzulernen. Heute reagiere ich ablehnend auf mich projizierte koloniale Denkmuster oder Verhaltensweisen. Das Privileg, nicht den weiß-eurozentrisch und patriarchalen Erwartungen entsprechen zu müssen, ist mir dabei bewusst geworden. Daher ist die Dekolonisierung unserer Denkmuster ein wichtiger Akt zur eigenen Befreiung und Selbstbestimmung. 


Nilima Zaman arbeitet zum Thema KI und Diversität, ist freiberufliche Dozentin an der Universität Tübingen und Gründerin des Bildungskollektivs und Safe(r) Space: -BiPoC+ Feminismen*.