Der Begriff und die Idee von Solidarität sind tief im Mythos der europäischen Moderne verwurzelt. Der begründungsbefreiten Solidaritatsrhetorik aus Gewerkschaften und Entwicklungshilfe stellen wir eine andere Solidarität entgegen, die aufgrund unzumutbarer Verhältnisse zwar eigentlich notwendig erscheint und heute doch nur freiwillig geschehen kann. Wir sprechen von Solidarität in Verwandtschaftsbeziehungen, die frei sein müssen vom Wahn der Blutlinien und essentialistischem Kollektivdrang. Die Möglichkeit der Assoziation, von der wir – inspiriert durch Donna Haraway – reden, kondensiert am scheinbar ganz individuellen Zustand der Einsamkeit. Ein Alleinsein, als ein Nur-für-sich-Sein mit der schalen Freiheit der Eigenverantwortung, fußt auf gegenwärtigen Lebens-, Arbeits- und Liebesverhältnissen. In den kollektiven Verhältnissen der Atomisierung eines ganzes Lumpenkognitariats – Freischaffende, Praktikant*innen, Befristete – entspringen am deutlichsten neue Möglichkeiten der Solidarität.
Niemand zweifelt mehr an einem grundlegenden Wandel der Arbeitswelt in den verschiedenen Ausdrucksformen eines globalen Kapitalismus. Die Zersetzung des Wohlfahrtsstaates, globaler Wettbewerb zwischen Allen auf allen Ebenen, Abwanderung der industriellen Produktion in noch ausbeutungsfreudigere Regionen oder automatisierte Maschinenparks sowie die Deregulierung von Arbeitnehmer*innenrechten sind dabei nur die sichtbarsten Entwicklungen. Eine Bildungsexpansion, die Ausweitung des Dienstleistungs- und Kreativsektors, digitale Informationsströme sowie immer mehr Ansprüche an die selbstverantwortliche Verwaltung der eigenen Person sind weitere Gründe und Konsequenzen dieser Entwicklung. Unsicherheit, ein Kreativitätsimperativ und unzählige isolierte Wahrheiten bestimmen aber nicht nur die Sphäre der Lohnarbeit, sondern alle Bereiche unser aller Leben. Dass angesichts solcher zivilisatorischen Verschiebungen in einschlägigen Analysen den Produktions- und Diskursbereichen der Kunst eine dominante Rolle zugeschrieben wird (beispielsweise von Andreas Reckwitz), vermag bei einem zweiten Blick nicht zu verwundern. Kreativität und die rastlose Schaffung von Neuem sind semantische Grundpfeiler einer modernen Kunst, die Hand in Hand gehen mit einem Künstler*innenmythos um hedonistische Armut.
Die Richtung wird in Ausbildung, Kulturproduktion und Konsum vorgegeben: Wir haben unsere Karrieren, unsere ganze Individualität und Zukunft selbst in der Hand; können und müssen gestalten. Individuelle Kreativität ist auch für die*den Nichtkünstler*in zum Imperativ geworden. Diese Freiheit zu Formgebung, aber auch der ganze Druck von Erfolg und Realisierung der Glücksversprechen sind heute auf jede*n Einzelne*n gelegt. Ein Drang zur immer ausgefeilteren Personlichkeit verflechtet sich mit toxischen Arbeits(losigkeits)verhältnissen, Selbstständigkeit, Zeitarbeit und befristeten Forschungsprojekten aber zu einer Gemengelage, die kollektive Zustande der Einsamkeit und Erschöpfung produziert. Alle sind einsam: nach dem Abschluss an der Kunsthochschule; nach dem Drittmittelprojekt; zwischen zwei stumpfen Grafikjobs; am nächsten Manuskript für irgendeine belanglose Zeitschrift. Zurückgeworfen auf sich selbst, arbeiten wir als doppelt freie Autor*in, Grafiker*in, Künstler*in gegen alle anderen.
Zu einer Freiheit von Mitteln kommt die „Freiheit von allem“ (Hito Steyerl): Freiheit von erdrückenden sozialen Beziehungen und gesellschaftlichen Normen, von sozialstaatlichen Grundleistungen oder von arbeitsrechtlicher Absicherung. Umsonst – arbeit und befristete Stellen – die ganze dunkle Materie des Kulturbetriebs (Hito Steyerl) – sind die Oberfläche einer Freiheit von Sicherheit, Planungsmoöglichkeiten und finanziellen Ressourcen. Weil es aber vielen so geht, zeigen sich potenzielle Wahlverwandtschaften, die frei sind von klassischen Zuweisungs- und Kollektivierungsformen. Weil an den Umständen niemand einzelnes mehr schuld ist, als alle zusammen, wäre diese Assoziation aber genauso frei von einer Wir-gegen-die- Rhetorik eines im Angesicht der Hilflosigkeit immer arglos werdenden, linken Populismus.
Kunst kann Biotop für solche Denk- und Praxisbewegung sein. Nicht nur, weil Künstler*innen sich vermehrt sozialen, politischen und edukativen Praxen zuwenden, sondern weil in diesen Praxen als Kunst die Schaffung von Neuem einrastet. Es muss aber hinausgehen über die ständige Produktion um der Produktion willen („weil aus Leidenschaft“) und die unaufhörliche (minimale) Differenzierung durch den Zwang zum Neuen. Die interne Verfasstheit dieser Gruppe von Produzent*innen, die vermeintlich nichts als ihre kreativen Potenziale besitzen, zeigt, dass zwar eine ganz eigene und abgeschlossene Welt für jede*n Einzelne*n besteht, diese Welten sich aber durch die Verwandtschaft in Einsamkeit verbinden lassen. Diese Einsicht kann höchstens anstoßen, dass über intellektuelle und praktische Fluchtlinien dieser Solidarität nachgedacht wird. Die Diagnosen zu positiven und negativen Freiheiten zeigen ja gerade, dass wir uns frei von einer historisch-zwingenden Verantwortung wahnen, obwohl die Verhältnisse eigentlich das Gegenteil verlangen müssten und ermoglichen könnten. Jede Solidarität anstatt blindes Strampeln in der Konkurrenz wurde sich als schlicht atemberaubend darstellen.
Paul Buckermann ist Soziologe und forscht an der Universität Luzern zu den symbolischen, materiellen und semantischen Infrastrukturen der Künste. Anna Jehle ist freie Kuratorin. Derzeit u.a. tätig im Kollektiv des KV Leipzig und ab 2020 gemeinsam mit Juliane Schickedanz Leiterin der Kunsthalle Osnabrück.
Dieser Text geht zurück auf die in Artists Unlimited, Paul Buckermann, Anna Jehle (Hg.): Kinship in Solitude. Perspectives on Notions of Solidarity. Hamburg 2017 (adocs publishing) entwickelte These.