Teile der Linken sehen die industrielle Großproduktion seit vielen Jahrzehnten als Zumutung für die Natur. In diesem Zusammenhang kritisierte beispielsweise die Umweltbewegung Industriepolitik, weil letztere üblicherweise das kapitalistische Wachstumsstreben unterstützt und auf die Ausweitung des industriellen Sektors abzielt. Eine stabile industrielle Basis hat aber viele Vorteile für eine Gesellschaft. Aus diesem Grund war und ist die Förderung nachholender Industrialisierung häufig ein zentrales Ziel von Ländern des Globalen Südens. Zugleich haben indigene Bewegungen in Lateinamerika sich für das gute Leben stark gemacht, das den Industrialisierungsbestrebungen der eigenen Regierungen oft kritisch gegenüberstand. Widersprechen sich also eine aktive Industriepolitik und die Vision eines guten Lebens zwangsläufig? In meinem Beitrag werde ich gegen diese Sichtweise argumentieren.
Das indigene Konzept des guten Lebens
Indigene Konzepte wie Buen Vivir oder Vivir Bien fordern das gute Leben im Einklang mit der Natur. Sowohl in Ecuador als auch in Bolivien ist dieses Ziel auch in der Verfassung verankert. Der Natur wird dabei der Status eines Rechtssubjekts mit eigenen Werten und Rechten zuerkannt, die beachtet werden müssen. Dabei sollen zugleich die Grundbedürfnisse aller Menschen befriedigt und ein Leben in Würde ermöglicht werden.
Es stellt sich allerdings die Frage, wer eigentlich festlegt, welche Rechte die Natur hat und wie konsequent überprüft werden kann, ob diese auch respektiert werden. Darüber hinaus ist offen, wie genau sich das auf Produktion bzw. Konsum auswirkt, wie also diese Rechte der Natur in die Praxis „übersetzt“ werden. Industriepolitik muss dabei nicht zwangsläufig gegen die Natur gerichtet sein.
Was will Industriepolitik?
Es gibt viele Schattierungen von Industriepolitik und eine Vielzahl an Instrumenten. Horizontale Industriepolitik beschränkt sich darauf, gute Rahmenbedingungen für das Wirtschaften zu schaffen und arbeitet vorrangig mit der Setzung von Anreizen. Demgegenüber zielt selektive Industriepolitik auf die Förderung bestimmter Unternehmen, Technologien oder Industriezweige ab. Sie kann nicht nur strategisch neue Industriezweige aufbauen, sondern auch reaktiv bereits bestehende zurück- oder umbauen.
Industriepolitik bezweckt also nicht zwingend den Ausbau der bestehenden Industriestruktur. Damit ist Industriepolitik auch nicht „der Feind“ der Natur und des guten Lebens, sondern ein wichtiges Instrument, um erste zu schützen und zweites zu erlangen. Die zentrale Frage ist nicht, ob es Industriepolitik braucht, sondern welche Industriepolitik vonnöten ist, wie diese finanziert wird und zu welchen Bedingungen Unternehmen Fördergelder erhalten. Um die Klimakrise zu beenden, brauchen wir eine umfassende Industriestrategie mit einer klaren Zukunftsvision, die die Ermöglichung eines guten Lebens für alle zum Ziel hat.
Insbesondere für den Globalen Süden muss – im Sinne der globalen Klimagerechtigkeit – der Aufbau neuer Industriezweige auch heute noch erlaubt werden, damit diese Länder nicht von Industriegüterimporten aus dem Globalen Norden abhängig bleiben.
Der Europäische Grüne Deal – Anfang oder Alibiaktion?
Die Europäische Kommission stellte im Dezember 2019 den Europäischen Grünen Deal vor, der für die EU eine
neue Wachstumsstrategie basierend auf der Herstellung eines grünen Wettbewerbsvorteils vorsieht. Die Vision ist technologie- und innovationsorientiert, sieht aber keine gravierende Änderung der bestehenden Konsummuster und nur eine teilweise Änderung der Produktionsweise vor. Eigentümerstrukturen und die Verteilung der Gewinne werden gar nicht thematisiert.
Neben der Frage, ob die grüne Wende marktgetrieben funktionieren kann, stellt sich auch eine weitere: Geht der Europäische Grüne Deal auf Kosten des Globalen Südens? Von dort werden sehr viele seltene Rohstoffe, z.B. für Windräder und E-Autos, gebraucht, die vor Ort die Klimafolgen verschärfen werden. Eine Bedrohung für das gute Leben anderswo?
Es braucht mehr als einen „grünen Kapitalismus“. Es ist eine sozial-ökologische Transformation nötig, die in manchen Bereichen einen Bruch mit den bestehenden Produktions- und Konsumstrukturen durchsetzt und die globale Klimagerechtigkeit anstrebt.
Welche Industriepolitik brauchen wir?
Im Angesicht der Klimakrise muss Industriepolitik vom Ziel „schneller, mehr und größer“ zu „effizienter, ressourcensparender und kleiner“ kommen. Damit dies gelingen kann, braucht es eine umfassende Industriestrategie, die auf vier Säulen beruht: 1) Die Unternehmen beim sozial-ökologischen Umbau unterstützen. In einzelnen Branchen können ein Rückbau oder Konversion der Produktion notwendig sein. In diesen Bereichen braucht es einen „gerechten Übergang“ für die betroffenen Beschäftigten, wie ihn die Gewerkschaften und die Arbeiterkammer fordern. 2) Regionale Wirtschaftskreisläufe stärken und die Wirtschaft nach dem Prinzip der ökonomischen Subsidiarität umgestalten. Das bedeutet, die Produktion auf möglichst niedriger räumlicher Ebene zu organisieren, solange dies effizient umsetzbar ist. 3) Die Verteilung der Gewinne muss hinterfragt werden. Das heißt, es dürfen nicht Gewinne privatisiert, aber die Kosten für den Umbau der Gesellschaft aufgebürdet werden. 4) Es müssen nicht gewinnorientierte Eigentumsformen und kleine und mittlere Unternehmen gestärkt werden, um die Macht von transnationalen Konzernen einzuschränken.
Insgesamt dürfen nicht ausschließlich ökonomische Überlegungen entscheidend sein. Soziale Ziele wie eine Grundbedürfnisorientierung der Produktion und ökologische Ziele wie die Verschiebung des Fokus von Effizienz auf Suffizienz müssen zusätzlich ins Zentrum rücken. Dann kann Industriepolitik ein Instrument für die Gestaltung eines guten Lebens sein.
Julia Eder ist Soziologin und lebt in Wien.