„Die Sprachen der Welt, von mündlichen Systemen bis hin zu Gebärdensprachen, durchdringen fast alle menschlichen Aktivitäten. Ein großer Teil der inneren Abläufe der Menschen verläuft auch in sprachlichen Flüssen“.1
Der offizielle Name Mexikos ist Vereinigte Staaten von Mexiko und die Amtssprache ist Spanisch. Wie wurde Spanisch in Mexiko zu einer gesellschaftlich akzeptierten Sprache? Nach der mexikanischen Revolution (1910–1920) wurden unter dem Präsidenten Lázaro Cárdenas ab 1934 die Grundlagen für das nationale Projekt gelegt, bei dem die Identität und die Gestaltung des „Mexikanisch-Seins“ in den Mittelpunkt der von der Regierung verfolgten Politik rückten.
Eine der indigenistischen Politiken des Cardenismo war die Integration der indigenen Bevölkerungsruppen in die nationale Bildungspolitik. Zu Beginn bestand eine der Strategien darin, die Bildung der Indigenen in spanischer Sprache umzusetzen. Diese Politik basierte auf der historischen Schuld (und den konsolidierten Forderungen nach der mexikanischen Revolution), die gegenüber den indigenen Bevölkerungsgruppen als Folge des Kolonialismus bestand, wobei man versuchte, sie mit integrativen Programmen einzubinden, um sie in der Idee einer fortschrittlichen und modernen Nation zu vereinen, die ihre Wirtschaft auf die Industrie und den ländlichen Raum als Hauptachsen des Wachstums stützte.
Die Idee des Nationalstaates spiegelt sich in gesellschaftlich akzeptierten und beklatschten Slogans wider, wie z.B. dem berühmten „Por mi raza hablará el espíritu“ („Durch meine Ethnie wird der Geist sprechen“) von [dem Schriftsteller und zeitweiligen Bildungsminister, Anm. J.K.] José Vasconcelos, in dem er auf eine kosmische, mestizische Ethnie anspielt. Was sich aber hinter diesem Satz verbirgt, ist nur die systematische Gewalt der Homogenisierung „der Anderen“, deren Muttersprache nicht Spanisch ist, indem mit der Stimme des Fortschritts und der Modernität das Heimatland (patria) geschaffen werden sollte.
Warum wird die Idee eines Nationalstaates, in dem die Amtssprache Spanisch ist, beleidigend und systematisch gewalttätig? In Mexiko werden derzeit 68 indigene Sprachen mit mehr als 360 dialektalen Varianten gesprochen. Laut der Volkszählung von 2020 des Nationalen Instituts für Statistik und Geografie (INEGI), das für die Analyse und Zusammenstellung der geografischen Daten des Landes zuständig ist, gibt es in Mexiko mehr als 7 Millionen Sprecher*innen einer indigenen Sprache.2 Man könnte diese Zählung als echte und verlässliche Referenz nehmen, allerdings nur, wenn man die Tatsache aus den Augen verlieren würde, dass die Mehrheit der Sprecher*innen indigener Sprachen in Mexiko in Gemeinden lebt, die nur schwer zu erreichen sind, was es für eine genaue Zählung fast unmöglich macht, zuverlässige Statistiken zu liefern.
In Mexiko wurde 2003 vom Nationalen Institut für indigene Sprachen (INALI) das Allgemeine Gesetz über die sprachlichen Rechte indigener Bevölkerungsgruppen geschaffen. Dieses Gesetz hat zwei Vorläufer, auf die es sich stützt, zum einen die „Allgemeine Erklärung der sprachlichen Rechte“ (die allgemein festlegt, dass jede Sprachgemeinschaft das Recht hat, ihre Sprache zu bewahren und auszuüben, ohne von anderen dominiert zu werden), und zum anderen die politische Verfassung der Vereinigten Staaten von Mexiko, die in ihrem Artikel 4 alle indigenen Sprachen als „Nationalsprachen“ anerkennt, d.h., dass sie die gleiche Gültigkeit wie das Spanische besäßen. Aber was bedeutet das wirklich?
Die allgemeinen Ziele, die mit diesem Gesetz verfolgt werden, beruhen insbesondere auf den folgenden Punkten:
– „Die Rechtsnorm erkennt die indigenen Sprachen und das Spanische als Landessprachen an und gewährt ihnen die gleiche Gültigkeit für alle Angelegenheiten und Verfahren öffentlicher oder privater Art sowie den uneingeschränkten Zugang zu öffentlicher Verwaltung, Dienstleistungen und Informationen.“
– „Nach dem Gesetz haben alle Mexikaner das Recht, sich in der Sprache, die sie sprechen, ohne Einschränkungen im öffentlichen oder privaten Bereich, mündlich oder schriftlich, bei allen sozialen, wirtschaftlichen, politischen, kulturellen, religiösen und sonstigen Aktivitäten zu verständigen.“3
Um die Menschenrechte zu gewährleisten, müssen auch die sprachlichen Rechte garantiert werden. In der Theorie klingt dieses Gesetz präzise und klar, aber in der Praxis und in der Realität hat der Staat seine eigenen Gesetze ignoriert.
Im Rechts-, Bildungs- und Gesundheitsbereich, um nur einige Beispiele zu nennen, gibt es nicht einmal die Mindestanzahl an Dolmetscher*innen, um die sprachlichen Rechte zu garantieren, die das Allgemeine Gesetz über die Rechte der indigenen Sprachen fördert.
Im Gegenteil, wenn sich der Staat an die indigenen Bevölkerungsgruppen, ihre Kultur und ihre Sprache erinnert, tut er dies nur, um sie auszunutzen. Er eignet sich ihre Kultur an, um sie zu folklorisieren und sie dann für den Tourismus zu verkaufen. Er assimiliert sie, um sie auszurotten und sie ihres Territoriums zu berauben.
Die Vielfalt der Sprachen, die in Mexiko gesprochen werden, zeigt nur den immensen Reichtum an Gedanken und Weltanschauungen, die dort zusammenkommen und nebeneinander existieren. Diese Gedanken spiegeln sich darin wider, dass die indigenen Bevölkerungsgruppen das Leben, das Wasser und die natürlichen Ressourcen verteidigen, dass sie im Einklang mit Mutter Erde leben, dass sie sich für ein gutes Leben, die Gemeinschaft, das Kollektiv und das Gemeinsame einsetzen. Erinnern wir uns daran, dass ein großer Teil der mündlichen Überlieferung, die von Generation zu Generation weitergegeben wird, in der Familie stattfindet, und so spielen die Frauen und Mütter eine sehr wichtige und relevante Rolle bei der Erhaltung der indigenen Sprachen.
1 Aguilar Gil, Yásnaya Elena, El nacionalismo y la diversidad lingüísitca, in Tema y Variaciones de Literatura, núm. 47, semestre II de 2016, UAM-A. Recuperado de: https://zaloamati.azc.uam.mx/items/5f409042-0e07-4881-bf9d-8c4e94ddf466
2 Informationen aus der Volkszählung von 2020 über indigene Sprecher*innen in Mexiko (INEGI). https://cuentame.inegi.org.mx/poblacion/lindigena.aspx
3 https://www.inali.gob.mx/detalle/la-ley-general-de-derechos-linguisticos-de-los-pueblos-indigenas-cumple-20-anos-de-su-promulgacion
Aus dem Spanischen übersetzt von Jens Kastner.
María Estela Barco Huerta ist Sozialarbeiterin, Forscherin und Menschenrechtsverteidigerin der zivilgesellschaftlichen Vereinigung für Ökonomische und soziale Entwicklung der indigenen Mexikaner*innen (DESMI) in San Cristóbal de las Casas, Mexiko. www.desmi.org