Glosse
Ein Freund, der wusste, dass ich lange Tagebuch geschrieben hatte, fragte, ob ich nicht Auszüge daraus zu einem Buch beisteuern wollte. Ich hatte total Lust, tat aber nichts. Einige Zeit später wurde ich zur Release Veranstaltung des Buches Ich glaube, ich bin jetzt mit Nils zusammen… (eben ohne meine Beiträge) eingeladen, meinem ersten Diary Slam, und ich fand es großartig! Als dann Freddy und Nadine, zwei Lesende mit unglaublich lustigen Texten, dem Publikum, also auch mir mitteilten, dass sie einen Raum suchen, um den Diary Slam regelmäßig zu veranstalten, nahm ich sofort Kontakt auf. Nun gibt es den Diary Slam schon seit mehr als zehn Jahren und es ist immer noch höchst amüsant.
Genaugenommen ist es gar kein Slam, denn es gibt keine SiegerInnen. Es lesen einfach etwa sechs gestandene Erwachsene aus Ihrem Teenie-Tagebuch vor. Aus dem Buch, dass niemals für die Öffentlichkeit vorgesehen war. Das streng geheimste Buch. Ich kenne Bücher, die mit einer Bohrmaschine gelocht wurden, um ein Vorhängeschloss anzubringen. Wenn es nicht sowieso schon eins hatte. Und nun werden die intimsten Bekenntnisse und die tiefsten Wahrheiten des Herzens einer Öffentlichkeit vorgetragen: „Und einen liebe ich ein bisschen: den Alessandro. Aber ein Problem hab ich mit ihm: Er popelt.“ (Solmaz, 12 Jahre). Das ist oft sehr witzig und geht vor allem deshalb, weil es zu Deinem jüngeren Ich diesen Abstand gibt. Das bin ich nicht (mehr). Da hält sich das Publikum vor Lachen die Bäuche, wenn Nadine liest: „Ich bin so hässlich!“ Hätte die 16jährige Nadine diese Reaktion auf diesen Gedanken erfahren, wäre das sicherlich nicht so gut gewesen. Aber die heutige Nadine steckt das locker weg, freut sich sogar, dass gelacht wird. Das funktioniert auch deswegen so gut, weil wir das ja meistens auch ganz genau kennen: Wir fanden uns alle irgendwie mal hässlich, und wir waren auch alle in Alexandra oder Alessandro verliebt. Und das haben wir aufgeschrieben. Das Tagebuch war oft die einzige Adresse für diese Art von Gedanken.
Es wird natürlich auch Zeitgeschichte erzählt „16 DM für ein Rolling Stones Konzert? Die spinnen ja!!“ Wenn ich überlege, wieviel ich heutzutage für 8 € von einem Stones-Konzert bekomme, macht diese Nostalgie Spaß. Der Spaß entsteht auch durch die Begrifflichkeiten: Wer sagt denn heute noch Fete? „Heute Abend war im Fernsehen: ‚Laboum II Die Fete geht weiter‘ total affengeil. Wenn man sowas sieht will man jeden Tag ne Fete machen. Da haben die mit 13 schon rumgeknutscht und wenn man bedenkt ich bin jetzt 12 und werde im Januar 13, dann muss ich noch viel aufholen.“ (Kay, 12 Jahre)
Ich selbst habe mit sieben Jahren angefangen Tagebuch zu schreiben, quasi als ich schreiben gelernt habe. Fast alle Sätze fangen mit „Und dann“ an, aber ab Tagebuch Nr. 4 von 15 wird es spannend. Mein älterer Bruder hatte mich dazu angefixt. Ich bin ihm dankbar dafür, obwohl ich eigentlich grundsätzlich gar nicht so gerne schreibe. Viele meiner Einträge fangen mit „Ich hab gar kein Bock zu schreiben, aber…“ an. Aber was dann da steht, versetzt mich auf intensive und angenehme Art in eine vergangene Zeit zurück. Und ich vermisse jede zeitliche Lücke, in der ich nicht geschrieben habe.
Kay Kastner ist Videokünstler, in Berlin-Neukölln organisiert er den Diary Slam und betreibt den Polymedialen Ponyhof.