Friedrich Liechtenstein wurde – über Nacht sozusagen – zum Star. Ehemals war er ein Puppenspieler und Kinobetreiber in der DDR, später verrückter Theaterregisseur und Schauspielertänzer im Nachwende- Berlin. Dann kippte er heraus aus dem System, verlor seine Wohnung, drehte ein Video, in dem er im slide-dance durch die Straßen tänzelt und dazu traurig „supergeil“ singt. Das entdeckte die Agentur Jung und Matt und verwandelte die Idee in einen Internet- Werbespot für die Lebensmittelkette Edeka, deren Produkte Liechtenstein als supergeil besingt: „Super Uschi, Supermuschi, Supersushi, supergeil.“ Der Spot ist witzig. Fast zwölf Millionen Mal wurde er angeklickt. Jetzt ist Liechtenstein ein berühmter Mann.
Der kometenhafte Aufstieg aus dem Nichts enthält alle Ingredienzien für eine Geschichte über Kreative, wie sie in den letzten Jahren besonders gerne erzählt wird. Die Süddeutsche Zeitung vom 17. April 2014 schildert Liechtenstein im Portrait als einen Mann, der erfolglose Zeiten kannte, ganz unten war und sich sogar „Quark von Lidl aufs Brötchen“ schmieren musste. Jetzt wohnt er im „oberen Stockwerk eines Designerbaus, an dessen Fassade jemand in Großbuchstaben Friedrich Liechtenstein geschrieben hat“. Liechtenstein wohnt da nur vorübergehend, aber immerhin, man schaut ihn auf Berlins Straßen an, „als hätte der liebe Gott sich heute die Gegend um den Rosa Luxemburg-Platz anschauen wollen“, er ist ein „Wappentier“, ein Parzival, der den Gral gefunden hat, ein „wirklich großer, wagemutiger Dichter“, einer der „gewaltige Texte“ wagt, ein Erlöser geradezu: „Es ist ein bisschen so, als habe ein Teil der Welt darauf gewartet, dass einer wie er kommt und Verkrampfungen löst.“
Diese Art von Portrait über einen, der vom Schicksal hin und her geworfen dann doch auf die ersehnte Goldader stieß, ist kein Einzelfall. In Gegenteil, sie ist typisch. Im Jahr 2010 habe ich begonnen, diverse Artikel aus deutschen Qualitätszeitungen zu sam- meln, die mir aus einem ganz bestimmten Grund, einer Familienähnlichkeit sozusagen, auffielen. Es sind Texte über anerkennungsbedürftige Manager und gehandicapte Models, über zerbrochene Sänger, gescheiterte Sportler, über smarte Schauspielerinnen, clowneske Entertainer und ätherische Regisseurinnen, über geniale Straßenkünstler und dickfellige alltägliche Menschen. Die Artikel stammen aus verschiedenen Sparten, meist sind es Portraits, und sehr oft stammen sie aus der Süddeutschen Zeitung. Gemeinsam ist den Texten ihr Ton und ein Narrativ, das in dieser Häufung doch irgendwie verwundert: Es sind sämtlich Heldengeschichten. Kann es sein, dass hier ein altes Genre wieder aufersteht? Es wäre dann eines, das kathartische Funktion vor allem für den verunsicherten Mittelstand und eine prekär lebende kreative Klasse übernimmt. Was hier erzählt wird, sagt einiges über deren Ängste, Hoffnungen und Imaginationen aus und über die Bedingungen, unter denen derzeit Erfolg stattfindet.
Ich werde im Folgenden das Narrativ an einigen Texten untersuchen. Dabei geht es nicht nur um die Geschichten selbst, sondern vor allem um die Dramatik und Theatralik, in der sie präsentiert werden. Letztendlich lässt sich ja fast jede Geschichte auch als Heldenepos erzählen – es ist, recht besehen, oft mehr eine Sache des Stils als des Inhalts.
Digitale Giganten
Auf Platz eins meiner Sammlung stehen Reportagen über die superkreativen Strategen der digitalen Welt. „Giganten“ werden Facebook– Mitbegründer Mark Zuckerberg, die Erfinder von Google, Larry Page und Sergei Brin und Apple-Guru Steve Jobs in der Süddeutschen Zeitung genannt (17. 11. 2010). Der Artikel beschreibt ihr Ringen um die Marktherrschaft als einen Kampf der „Titanen“, ihre Kraft ist die Börsennotierung, ihr Schwert die Idee, und ganz in der Ferne wartet auch schon die Entmachtung durch Kronos oder gar den neuen Zeus. Denn der „zukünftige Sieger“, so endet der Text, „sitzt in diesem Moment vielleicht gerade in einem Studentenwohnheim in Harvard, Shanghai oder Moskau und tüftelt an einer Idee. An einer Idee, die innerhalb von wenigen Jahren Weltbedeutung bekommt.“
Ganz im Muster der antiken Heldensaga strickt dieselbe Zeitung auch ein Portrait des im Spätsommer 2011 schon schwer erkrankten Steve Jobs (SZ vom 26. 8. 2011). Es erzählt die wundersame Geschichte vom Adoptivkind, vom Studienabbrecher und Streuner, der dann zu dem Mann wurde, der die Welt revolutionierte. Der Apple-Gründer wird in einem einzigen Text mit dem alttestamentarischen König David gleichgesetzt im Kampf gegen den Riesen Microsoft, mit dem antiken Prometheus, denn „Jobs holte die Computer ans Licht der Allgemeinverständlichkeit“, mit Odysseus, der nach seiner Rückkehr zu Apple „die unfähigen Interimschefs von seinem Hof“ vertrieb, mit den Propheten, denn Jobs „wusste“,„sah voraus“, er „ist visionär, und Visionäre sind einzigartig“, und indirekt auch mit Christus, dem die Apple-Gemeinde „Hochämter bringt“. Was den Tod des Helden betrifft, zitiert der Artikel Steve Jobs selbst: „Dass ich sterblich bin, das ist das stärkste Werkzeug für mich, große Entscheidungen im Leben zu treffen. … Du bist immer schon nackt. Es gibt keinen Grund, niemals, nicht deinem Herzen zu folgen.“
So viel unverhohlene Glorie und massives Pathos wären – außer in der Popkultur und im Sport – heute an keiner anderen Stelle mehr möglich; keinen politischen Führer, keinen Kirchenfürsten, auch keinen Finanzunternehmer könnte eine Zeitung so hymnisch beschreiben, ohne sich lächerlich zu machen.
Es geht natürlich auch zwei Nummern kleiner und mit einer Prise Ironie, ohne dass sich das Narrativ grundsätzlich ändern müsste. Der Schlagersänger Gunter Gabriel zum Beispiel, so schreibt Hilmar Klute in der SZ vom 4. 3. 2011, hat ein „Gesicht, das aussieht, als hätten die Schicksalsgötter des Olymp ihre Autogramme da reingeschrieben“. Er hat „bäuchlings am Schlund der Welt gelegen und tief inhaliert.“ Gunter Gabriel, „der Sänger der Hartz IV Gesellschaft“ ist „eine Art Odysseus der unteren Mittelschicht, und trotzdem“ – das ist entscheidend – „ist er nicht einer von ihnen.“ Die Texte über Musiker und Stars folgen gerne dem Muster des tragischen Helden. Künstler sind „Gezeichnete“, dass sie am eigenen Ruhm zerbrechen gehört zur Fama, als müsste der Verfall der Person nur um so deutlicher die Unvergänglichkeit des Werkes demonstrieren. Gunter Gabriel ist überdies der „Mann, der unten war und sich wieder hoch gesungen hat“, der „Mann, der keine Angst mehr hat“ und seine Botschaft passt als Sentenz auch zur Herzensrede von Steve Jobs: „Halte den Schmerz aus, er kann morgen wieder zu Ende sein.“
Tochtergöttinnen
Im Sample der Heldengeschichten finden sich, was kaum überrascht, nur wenige Frauen. Der Erzählstil ist ja eher herb, und der Dreck der Gosse, aus dem der Heros sich hochwindet, steht nur Männern gut. Wenn Frauen auftauchen, dann sind sie eher Göt- tinnen. Die Regisseurin Sophia Coppola ist in der SZ (30./31. 10. 2010) als nicht von dieser Welt beschrieben. Das liegt vor allem daran, dass sie die Tochter „des Übervaters Francis Ford Coppola“ ist. Der Text würdigt als ihre ausdrückliche Leistung, sich nicht vom Vorwurf der Vetternwirtschaft beeindrucken zu lassen, Filme eines ganz eigenen Stils zu machen, die zeitgemäßer sind als die des Vaters, und damit Oscars („Goldkerle“) und Goldene Löwen wie selbstverständlich einzuheimsen. Den Schreiber wurmt es aber offensichtlich, dass hier alles so leicht geht, Coppola muss gar nicht kämpfen. Aber auch das ist ein Teil des Narrativs, denn ohne glückliche Fügung ist eine große Karriere eben nicht zu haben, und die gute Geburt ist ein Vorsprung der göttlichen Sophia: „Wahrscheinlich kann sie mit diesem Drang der Normalsterblichen, überall Dramen und Katharsis und Lektionen zu sehen, die für uns der große Zuchtmeister Leben bereithält, nicht viel anfangen. Sie ist dann immer schon einen Schritt weiter.“
Mittelständische Adoration
Gefühlvolle Heldengeschichten sind in allen guten Zeitungen zu finden, auch die Frankfurter Allgemeine Zeitung nennt Steve Jobs eine „Lichtgestalt“. Doch das Genre und auch die Tonlage einer hauchzart neidgemischten Bewunderung treten in der Süddeutschen Zeitung besonders deutlich auf. Interessant an diesen am New Journalism geschulten Texten ist auch, wie das Journalisten-Subjekt, das natürlich in der sehr überwiegenden Zahl männlich ist, in die Geschichten eingeht. Die Reportage über die Giganten der digitalen Welt etwa beginnt so, dass der Journalist, der „Herr von der Zeitung“, dem Facebook-Mitbegründer Sean Parker vorgestellt wird, und zwar in einem jener edlen Münchner Lokale, in denen „man bei Niedervoltlicht Steaks und Edelfische verzehren kann“. Der Wunderknabe aus der digitalen Sphäre zeigt sich aber maximal desinteressiert am Printjournalisten und dreht sich mit einem „Hallo ich bin Sean“ einfach weg. Das sitzt. Und wird für gut befunden, denn der Mensch weiß, wo er hingehört: „Den Rest jenes Abends … verbrachte Sean Parker im Gespräch mit zwei Nobelpreisträgern.“ Und siehe da, die alten Herren lauschen gebannt dem „Junggenie und frühen Milliardär Sean Parker, der erst 30 Jahre alt ist“.
Auch wenn die exzellente Seite-Drei-Prosa der SZ immer mit sozusagen ironiegewobenem Lendenschutz auftritt, beeindruckt ist sie doch – vom Geld, von den Preisen, vom Ruhm, von der großen Gesellschaft, von den Edelfischen. Und sie mag definitiv keinen Lidl- Quark. In ihrer hipsterhaften Attitüde eines mittelständischen Anti- Bürgertums drückt sich ein maßloses Bedürfnis nach Bewunderung aus, nach Teilhabe durch Identifikation. Ein vergleichbares Potential für Heroenkult entwickeln die Zeit und die FAZ, entsprechend ihrer Zielgruppe, eher an anderen Gegenständen, und sie halten sich in gedeckteren Farben. Hier siedeln die Heroen gerne im Unternehmer-, Dipolmaten- und Politikberatermilieu, oder auch – bei der Zeit – im ganz normalen Alltagsleben.
Kein Opfer sein
Wer einmal darauf achtet, wie oft diese idealisierenden Erzählungen vorkommen, wird nicht mehr behaupten können, wir lebten in postheroischen Zeiten. Aber was wollen die Geschichten lehren? Die Muster der Mythen von Kampf, Durchhalten und Sieg sind uralt, in ihnen überkreuzen sich existenzielle und gesellschaftliche Funktionen, von daher muss man auch die gegenwärtigen Heldengeschichten vielschichtig deuten. In einer ihrer Facetten jedoch lassen sie sich perfekt als Symptom einer „fortschreitenden Vermarktlichung“ der Gesellschaft beschreiben mit ihrem steigenden Zwang zu Konkurrenz und Kreativität. Wer passt schon besser zum Wettbewerb als der einfallsreiche Held? Er gleicht dem Künstler. Groß wird er, weil er sich übersteigt. Er ist kein Beamter, kein Angestellter und auch nicht unbedingt ein Demokrat. Vor allem aber ist er eines nicht: ein Opfer. Er siegt, und wenn er unterliegt, dann klagt er nicht, er nimmt den Schmerz auf sich als notwendigen Preis für sein Ziel und den Ruhm. Das heroische Narrativ unterstützt im Überlebenskampf, den heute kein Mensch mehr gewerkschaftlich organisiert führt, sondern einzeln, als „unternehmerisches Selbst“. Dieses Selbst muss kreativ sein, sich immer neu erfinden und mutig ins Ungewisse gehen, um Gewinn zu erzielen. Und damit es weiter bei der Stange bleibt, braucht es langen Atem, Schmerztoleranz und oft auch Disziplin.
Auf Glück hoffen
Arbeit und Durchhalten sind aber nur die eine Seite. Der Erfolg des Helden hängt nämlich einerseits an der Leistung, andererseits aber immer auch an der Gunst der Götter. Die Heldengeschichten reflektieren und rechtfertigen in gewisser Weise eine Entwicklung, die der Frankfurter Soziologe Sighard Neckel als „Refeudalisierung der Ökonomie“ beschreibt. In Zeiten maßloser und willkürlich eingefahrener Maximalgewinne einer kleinen Schicht erodiere, so Neckel, das meritokratische Prinzip, das heißt die bürgerliche Überzeugung, nur das als gerechtfertigten Erfolg zu werten, was durch eigene Leistung erworben wurde. An die Stelle der Leistung trete nun bloßer Erfolg, an die Stelle der Leistungsfähigkeit Erfolgstüchtigkeit. Die Rechnung, dass Arbeit auch zum Aufstieg führt, geht nicht mehr auf. Spielglück ist gefragt, und für manche fällt der Erfolg eben vom Himmel.
Die bewundernden Heldengeschichten versuchen unter anderem, mit dieser Verunsicherung umzugehen. Sie siedeln genau in der Ambivalenz von Glück und Verdienst. Als publizistisch verabreichte Medizin für ein Bürgertum, das nicht mehr automatisch mit gesellschaftlichem Aufstieg rechnen kann, wollen sie das meritokratische Prinzip aufrecht erhalten und gleichzeitig die Ausnahme legitimieren. Sie sollen uns behutsam klar machen, dass es ohne Anstrengung nichts gibt, aber mit Anstrengung nicht unbedingt etwas. Sie sollen uns auch beibringen, dass Jammern nichts nützt.
„Andere wären aus dem Fenster gesprungen“, sagte der Künstler Friedrich Liechtenstein über seine schlimme, erfolglose Zeit. Er aber habe weitergemacht, schreibt die Süddeutsche Zeitung. Denn das ist das Rezept: Weitermachen. Der Held gibt nicht auf, bis ihm dann doch der supergeile Coup gelingt.
Andrea Roedig promovierte in Philosophie, leitete bis 2006 die Kulturredaktion der Wochenzeitung Freitag, ist Mitherausgeberin der Zeitschrift Wespennest, schreibt für verschiedene Zeitungen in den Bereichen Alltagsreportage und Kulturessay und lebt als freie Publizistin in Wien.