Es war einmal in einer Welt vor unserer Zeit, da mochten sich Menschen der unterschiedlichsten Sprachen, Kulturen, Religionen und Weltregionen hinter derselben Forderung vereinen: Dem Zehn- oder später Achtstundentag. Die Forderung nach kürzeren Arbeitstagen, damit die Wirtschaft dem Menschen dient statt umgekehrt, damit Menschen auch die Früchte ihrer eigenen wachsenden Produktivität genießen können, war und ist eine, die Menschen, die von Lohnarbeit statt Kapitaleinkommen leben, überall auf der Welt verstanden und sich hierüber verbanden.
Der Zehn- oder Achtstundentag war eine Forderung, die sich an den Staat richtete. Die Begrenzung des Arbeitstages (Normalarbeitstag) war wie der Arbeitsschutz (Fabrikgesetzgebung), das Verbot von Kinderarbeit, das Recht auf allgemeine kostenlose Schulbildung usw. eine Frage der Gesetzgebung. Indes: Das „Geben Sie Gedankenfreiheit, Sire“ aus Friedrich Schillers Don Carlos beschreibt nicht den tatsächlichen Entstehungsprozess von Gesetzen. Allein, „wenn sich die Völker selbst befreyn“, kann Wohlfahrt gedeihen; denn in Gesetzen drückt sich nicht in erster Linie Vernunft und Wahrheit aus. Sie sind vielmehr Ausdruck von gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse der Klassen, und entsprechend sind gute Gesetze im Sinne der Lohnabhängigen das Ergebnis von sozialem Druck von unten. Der US-Gewerkschafter und Bürgerrechtler A. Philip Randolph formulierte es einmal so: „Freiheit wird nie gewährt, sie wird errungen. Gerechtigkeit wird nie geschenkt, sie wird durchgesetzt.“
Der Begriff „globale soziale Rechte“ ist aus wenigstens sechs Gründen ein nützlicher Begriff.
Der Begriff der Rechte steht erstens in der Tradition der Aufklärung und des Liberalismus, die besagt, dass Herrschaft und Staat nicht gottgegeben sind, sondern sich vor den Menschen rechtfertigen müssen und von ihren Bedürfnissen herleiten. Es waren dabei in der Geschichte der Moderne Kämpfe von unten, die dafür sorgten, dass der Liberalismus, der ursprünglich nur die männlichen, weißen Besitzenden mit Rechten ausstattete und die Eigentumslosen, Frauen und Kolonialbevölkerung rechtlos ließ, demokratisiert wurde.
Der Begriff bezieht sich zweitens auf den Staat und die Gesetze, in denen universelle Rechte von Individuen kodifiziert werden. Damit fasst er die Kämpfe, die der Gesetzgebung im Sinne Randolphs vorausgehen, und ermöglicht das Denken über sowohl die Art der Durchsetzung von Rechten als auch ihrer materiellen (Aus-)Gestaltung auf dem Terrain der vermachteten staatlichen Institutionen.
In einer Welt, in der der Gegensatz von extremem Reichtum und Armut in den letzten 40 Jahren neoliberalen Kapitalismus extrem zugenommen hat, verweist das Attribut „sozial“ drittens auf die Notwendigkeit, individuelle Menschen-Rechte auf die Verteilungsfrage und die Frage der materiellen Teilhabe auszuweiten. Denn am Ende des Tages bleibt das grundsätzliche Problem: Die Meinungsfreiheit reicht nicht aus, um meine Kinder zu ernähren. Die Welt liberaler Freiheitsrechte, in der Reiche und der Arme das gleiche Recht haben, unter einer Brücke zu schlafen, ist notwendigerweise zu erweitern durch eine Welt der sozialen Rechte. Dies gilt umso mehr, als der heutige Wohlstand der Nationen ausreichen würde, die Armut der Nationen ganz und gar zu überwinden.
Das Attribut „sozial“ erfasst viertens, dass es um mehr geht als nur um die (liberalen) Rechte von Individuen gegenüber dem Staat, sondern um Rechte von sozialen Gruppen, von gesellschaftlichen Klassen, die diese entsprechend auch kollektiv nur erkämpfen können.
Das Attribut „global“ verweist wiederum fünftens auf den internationalen Charakter dieser universellen Rechte, die, wie etwa ein Recht auf kostenlose öffentliche Gesundheitsversorgung oder das Recht auf bezahlbare Mieten durch sozialen Wohnungsbau usw., nicht an Ländergrenzen enden.
Und schließlich erlaubt dasselbe Attribut sechstens das Nachdenken darüber, wie heute eine universelle globale Forderung aussehen könnte, die, weil sie die Gemeinsamkeiten der Kämpfe, einschließlich ihrer Niederlagen und Siege, betont, an die Stelle der historischen Forderungen der internationalistischen Arbeiterbewegung, wie dem Zehnstundentag, treten könnte.
Die Globalisierung des Kapitalismus hat zu der paradoxen Situation der Nationalisierung der Klassen der Lohnabhängigen geführt. Die Mobilität des Kapitals, verstanden als seine strukturelle Macht, hat es den Kapitalbesitzer*innen erlaubt, durch Androhung von Kapitalverlagerungen Subventionen und Steuersenkungen, im Umkehrschluss also auch Sozialkürzungen von den Staaten und lohnpolitische Zurückhaltung von Lohnabhängigen und Gewerkschaften zu erpressen. Die Austeritätspolitik der Staaten schwächt soziale Rechte, wenn Renten, Gesundheits- und Bildungsausgaben gekürzt werden. Die global sinkenden Lohnquoten führen umgekehrt zur Anhäufung von immer mehr anlagesuchendem Kapital, das sein Heil dann in der weiteren Privatisierung von öffentlichen Gütern findet. Dadurch werden aber soziale Rechte noch weiter eingeschränkt, weil Bereiche des gesellschaftlichen Lebens, die bislang dem Prinzip der Profitmaximierung entzogen waren, wieder in Wert gesetzt, wieder zur Ware gemacht werden, die vom Geldbeutel abhängig sind.
In Ermangelung eines Weltstaates, auf dessen Terrain sie sich verankern ließen, klingt der Begriff der „globalen sozialen Rechte“ unrealistisch, weil adressatenlos. Aber der Adressat sind die Akteur*innen, die sie heute einfordern. Es war die von Karl Marx mitgegründete Erste Internationale, von der einst die Forderung nach dem Zehnstundentag ausging. Der Mangel an solchen internationalen Zusammenschlüssen, die sich auf den Staat und das Recht beziehen, trug dazu bei, dass es lange keine universelle Forderung wie diese historische gab. Mittlerweile sind aber mit der Progressive International und vergleichbaren Organisationen neue Institutionen entstanden, die identische Forderungen internationalisieren könnten. „Globale soziale Rechte“ kann hierfür der Rahmen sein, um sie zu entwickeln.
Ingar Solty ist Autor zahlreicher Bücher, zuletzt erschienen sind Trumps Triumph? Gespaltene Staaten von Amerika, autoritärer Staatsumbau und neue Blockkonfrontation (Hamburg 2025) sowie die ersten drei Bände der 36bändigen Edition Marxismen (https://marxismen.de/).