Gemeinsam gerettet

Dieser Beitrag entsteht neun Wochen nach der Schließung des öffentlichen, kulturellen Lebens im Zuge der Covid-19 Pandemiebekämpfung. Die ersten Lockerungen sind in Kraft getreten, doch die Situation bleibt volatil und ungleich: Während Friseure und Friseurinnen über Wochen hinaus ausgebucht sind, wird der Veranstaltungsbetrieb noch längere Zeit durch Präventionsmaßnahmen und Verbote schwer beeinträchtigt sein: Doch auch viele andere Unterhaltungs- und Freizeitbetriebe – und natürlich die hunderttausenden Arbeitslosen und Kurzarbeitenden – müssen sich der Erkenntnis stellen, dass die Folgen der teils mehrmonatigen Betriebsunterbrechungen eine kaum schaffbare Finanzierungshürde bedeuten. In den Medien zirkulieren Umfragen, die besagen, dass 43 % der Haushalte Einkommenseinbußen zu verzeichnen hätten, und für manche Branchen kursieren Insolvenzvorhersagen von bis zu einem Viertel der Betriebe. Es ist Absicht, gleich im ersten Absatz einen Querschnitt durch verschiedene betroffene Bereiche und Tätigkeitsformen zu unternehmen, obwohl ein Text für Bildpunkt sein Augenmerk auf die Situation in der Kunst, speziell der bildenden Kunst, legen sollte. Doch gerade ein solidarischer Kontext wie Bildpunkt [1] muss auch ein Ort für (Selbst)infragestellungen sein können: Denn die letzten Wochen stellten eine Herausforderung für jene dar, die daran gewohnt waren, mit einem interessenspolitischen Tunnelblick in die politischen Verteilungskämpfe zu ziehen.

Etwas zugespitzt könnte gesagt werden, dass ein größerer Teil der Lobbyingrhetorik von Kulturschaffenden und ihrer Interessensvertretungen in Österreich traditionell darauf beruht, die eigene – besonders schlechte – Lage zu betonen und implizit davon auszugehen, dass es den meisten anderen besser ergehe. Dabei hilft auch die Vorstellung, dass für die jeweils anderen Berufsgruppen stärkere soziale Absicherungsformen vorhanden wären. Doch nun – im Moment des Lockdowns – waren es schlicht zu viele, die zugleich auf ihre schwierige Lage hinweisen, als dass es für die Kulturschaffenden möglich gewesen wäre, mehr als eine Mitnennung bei der jeweiligen Anspruchskategorie zu erreichen.

Nach schnellen Anfangserfolgen – wie der Einbeziehung von Kulturvermittler*innen in einen bisher nur Künstler*innen vorbehaltenen Unterstützungsfonds – ist die Krise daher zum Testfall für die Überzeugungskraft der Selbstbeschreibungen des kulturellen Feldes geworden, insbesondere dort, wo die Beteiligten gewöhnt daran sind, eine Ausnahmeposition zu beanspruchen: Ein Blick auf einige Dokumente der Auseinandersetzung: Ein häufig zitierter Appell der Wiener Secession fokussiert auf „in Österreich lebende freischaffende KünstlerInnen“ und ein paar Zeilen weiter auf „Kunstschaffende“ [2]; ein Demonstrationsaufruf für den 1. Mai formulierte, dass „der Artikel 7 unserer Bundesverfassung auch im Bezug zu allen Künstlerinnen und Künstlern durch Kunst- und Kulturpolitik so angewendet werden (soll), dass jede Künstlerin und jeder Künstler das Anrecht auf ein gutes und würdevolles Leben hat“ [3]. Ein offener Brief des österreichischen Kulturrats weitet den Blick immerhin auf „Künstler*innen, Kulturschaffende und gemeinnützige Trägerorganisationen der freien Kulturszene“ [4], doch die meisten Interessensvertretungen (Filmschaffende, Kabarettist*innen, etc.) argumentieren wie gewohnt für die jeweils von ihnen vertretenen Gruppen. Äußerst selten erscheinen Appelle von fachübergreifenden Allianzen oder Stellungnahmen unter Einbeziehung anderer betroffener Gruppen. Diese Strategien sind zwar verständlich, und sie unterscheiden sich auch nicht von jenen in anderen Wirtschaftsbereichen, doch hier wie dort sind sie nicht unbedingt solidaritätsfördernd.

Eine wertschätzende Diskussion zu der Frage, ob diese Form von Unterstützungsappellen nicht zu reduzierend und unnötig ausschließend sind, tut Not. So könnte zum Beispiel von assistierenden Techniker*innen, Übersetzer*innen oder dem Aufsichtspersonal nachgefragt werden, ob man sich immer „mitgemeint“ fühlen solle, wenn der Fokus der Appelle auf den (künstlerisch) Schaffenden liegt? Versprächen nicht andere Begriffe stärkere Resonanz und eventuell auch größeren politischen Einfluss? Nach Bertolt Brechts Fragen eines lesenden Arbeiters sollte wohl auch in der Kunst immer wieder gefragt werden, ob der erobernde Alexander nicht zumindest einen Koch dabei hatte? Immerhin taucht neuerdings der „Kulturbeschäftigte“ in der Debatte auf und erweitert damit den linken Traditionsbegriff von den „Kulturarbeiter*innen“. Dazu eine statistische Fingerübung: Die Statistik Austria weist in der Domäne Bildende Künste unter der Bezeichnung „künstlerisches und schriftstellerisches Schaffen“ 5.990 Personen aus. [5] Der KSVF (Künstlersozialversicherungsfonds) spricht in seinem Jahresbericht von 11.945 Personen, die als „Kunstschaffende“ versichert sind, wovon 4.213 im Jahr 2018 den Zuschuss bezogen. [6] Die Bezeichnung „Beschäftigte im Kultursektor“ umfasst jedoch, wieder laut Statistik Austria, immerhin bereits 102.300 Personen [7] und als „Erwerbstätige mit Kulturbezug“ werden 200.600 Personen an – gegeben. [8] Während also die Hilfsappelle der Betroffenen im Kunstfeld meist bei einer kulturspezifischen Selbstbeschreibung blieben, fanden sie sich in der Systematik der Hilfsprogramme schnell in andere, abstrakt-rechtliche Großgruppen einsortiert und waren damit dazu gezwungen, sich neu mit ihrem Selbstbild und den Ungleichheiten sozialer Sicherungssysteme zu beschäftigen. Kulturschaffende fanden sich dabei in allen Kategorien: von (ökonomisch) unbeeinträchtigten Arbeitsverhältnissen im staatlichen Sektor, über Kurz – arbeitsbetroffene bis hin zum Superprekariat, der teils un – dokumentierten Hilfsarbeit, doch es waren vor allem die selbständigen und gewerblichen Arbeitsformen, die in der medialen Berichterstattung über die Nöte von Kulturschaffenden überwogen.

Dabei zeigte sich schnell die Ambivalenz einer rechtlichen , jenseits von berufsspezifischen Abgrenzungen: So konnten etwa Teile der Kunstszene in Berlin und Baden Württemberg davon profitieren, umstandslos der Kategorie EPU/KMU (Einpersonenunternehmen / Kleinunternehmen) zugeordnet zu werden, für die zu Beginn der Krise relativ schnelle pauschale Hilfszahlungen vorgenommen wurden. Zugleich wurde klar, wie sehr sich das Modell der „freien“ Arbeit in den letzten Jahrzehnten in zahlreichen Bereichen durchgesetzt hatte: So nennen etwa die FAQ eines österreichischen Hilfsprogrammes beispielhaft „z.B. Vortragende und Künstler, Journalisten, Psychotherapeuten“, während in Deutschland, ausgehend von einer DPA Meldung, kurzzeitig die Aufzählung: „Musiker, Fotografen, Künstler, Heilpraktiker, Dolmetscher oder Pfleger“ die Runde durch die Medien machte. Eine Folge dieser „Gleichbehandlung“ waren daher, mitunter auch barsch formulierte, Erinnerungen daran, dass es auch anderen Berufsgruppen schlecht ergehe, wenn die Sprache auf den Kultursektor kam. Aus der Vielfalt von Betroffenen erwächst also die (noch offene) Frage, inwieweit es dem kulturellen Feld gelingen wird, seine Position in Anspruchs- und Aufmerksamkeitskonkurrenz mit anderen zu argumentieren? In dieser Situation kommt jenen Argumentationen besondere Bedeutung zu, die darstellen, in welche gesellschaftlichen Zusammenhänge sich die Akteure und Akteurinnen selbst stellen. Als Leitfrage dafür könnte etwa Reflexion darüber dienen, mit wem man denn gemeinsam gerettet werden wolle?

Sucht man nach Wegen, um die „Bargaining Position“ des Kulturfelds in dieser Krise abseits von individuellem Unternehmer* innentum und „Umwegrentabilität“ – aber auch jenseits von unspezifizierten Bedeutungsbekundungen oder der Suche nach paternalistischem Mitleid – zu stärken, zeichnen sich diese dort ab, wo der Zusammenschluss unter anderen Begriffen geschieht. Dies versucht etwa das „Bündnis für Gemeinnützigkeit“, welches sich im Zuge der Corona-Situation mit einem „6-Punkte-Plan zur Erhaltung der zivilgesellschaftlichen und gemeinwohlorientierten Organisationen in der Covid 19-Krise“ an die Öffentlichkeit gewandt hat. In dessen Präambel beschreiben sich die Verfasser*innen – zu denen auch die IG Kultur gehört – folgendermaßen: „Bei all ihrer Heterogenität vereint die Organisationen des sogenannten Dritten Sektors ihr gemeinnütziger Charakter, die Orientierung am Gemeinwohl und das gemeinsame Ziel, ein gutes Leben für alle Menschen in Österreich und darüber hinaus zu schaffen.“ [9] Es folgt eine beispielhafte Aufzählung von „Sektoren“, von der Betreuung kranker und pflegebedürftigen Menschen über Streetwork und Jugendarbeit bis zur Förderung kultureller Vielfalt und staatsbürgerlicher Bildung. In aller Freundschaft sei es zum Abschluss hier im Bildpunkt gesagt: Diese Liste vermittelt gesellschaftliche Notwendigkeit überzeugender, als manche der rein auf Kunst oder Kunstschaffende bezogenen Wortmeldungen der jüngsten Zeit. Dass der bisher größte – auch kulturbezogene – Unterstützungstopf in der Höhe von 700 Millionen Euro mit dem Titel „Hilfsfonds für den gemeinnützigen Sektor“ angekündigt wurde, ist daher kein Zufall.


Martin Fritz ist Kurator, Berater und Publizist. Von 2016 bis 2020 war er Rektor der Merz Akademie in Stuttgart


[1] Im Zusammenhang dieses Artikels sei vor allem auf die BP-Ausgabe zum Thema „Solidarität“ vom Herbst 2019 (Nr. 51) verwiesen.

[2] Wiener Secession, Offener Brief der Secession an Kulturstaatssekretärin Ulrike Lunacek 

[3] Demonstrationsaufruf 2 Meter Abstand für Kunst und Kultur

[4] Österreichischer Kulturrat, Offener Brief zur Existenzsicherung in der Corona-Krise 

[5] Statistik Austria, Unternehmen und Beschäftigte im Kultursektor 2017 

[6] KSVF Künstler-Sozialversicherungsfonds, Geschäftsbericht 2018

[7 ] Statistik Austria, Unternehmen und Beschäftigte im Kultursektor 2017

[8] Statistik Austria, Erwerbstätige in bzw. außerhalb von Kultursektor/Kulturberufen 2011 bis 2018

[9] Bündnis für Gemeinnützigkeit, 6-Punkte-Plan zur Erhaltung der zivilgesellschaftlichen und gemeinwohlorientierten Organisationen in der Covid 19- Krise vom 26.4.2020