Fremde in der Schule des Südens

Über die kolonialen Dimensionen der französischen Theorie

Rauchend sitzen sie in Pariser Cafés und debattieren über die Freiheit – das ist eine der dominanten stereotypen Vorstellungen, die sich über französische Intellektuelle in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts festgesetzt haben. Wenn man den neuesten Erzählungen Glauben schenken darf, dann tranken sie dabei mit Vorliebe Aprikosencocktails. Ein anderes, nicht weniger verbreitetes Bild ist das von Intellektuellen, die im Pariser Mai 1968 auf die Straße gingen, Megaphone in die Hände nahmen und sich mit den studentischen Protesten solidarisierten. In einem dritten Klischeebild wird die glanzvolle Geschichte der französischen Intellektuellen dagegen im großen Stil als Teil der Trente Glorieuses erzählt – so nennt man die französischen Wirtschaftswunderjahre zwischen 1945 und 1975, in denen Frankreich auch in kultureller Hinsicht eine herausragende Blütezeit in Literatur, Film, Theater, Kunst, Wissenschaft und Philosophie erlebte.

Doch was wäre, wenn diese drei Jahrzehnte nicht immer so glanzvoll waren? Immerhin erlebte Frankreich in exakt derselben Zeitspanne das Fiasko der Dekolonisierung und stürzte mit dem blutigen Algerienkrieg in eine tiefe politische Krise, die das Land nur schwer und unter erheblichen moralischen Verlusten überwinden konnte. Und was wäre, wenn das erste grundlegende historische Ereignis, das die unterschiedlichen Denk- und Theorieströmungen prägte, nicht der Mai 68, sondern vielmehr die kollektive Erfahrung des Algerienkriegs und der Dekolonisierung war? Und was hat es schließlich zu bedeuten, wenn wir uns die Tatsache bewusst machen, dass die französischen Intellektuellen nicht nur in Pariser Cafés saßen, sondern sich mitunter auch in Algier, Tunis oder Casablanca herumtrieben?

Mit dem kolonialen Hintergrund jener Jahre ist die weniger ruhmvolle Kehrseite der Trente Glorieuses beleuchtet. Die historischen Auswirkungen des Kolonialismus erstreckten sich auch auf die französische Theorie und ihre prägenden Figuren. So lässt sich zeigen, dass die Erfahrung des Algerienkriegs eine Zäsur in den meisten Lebensläufen der französischen Intellektuellen markierte und eine unmittelbare biographische Realität darstellte. Die Protagonist*innen meines Buches1 waren zweifellos alle gegen den Krieg und den Kolonialismus, doch sowohl die Positionierungen als auch die Kontexte, auf die sich die Positionierungen bezogen, fielen unterschiedlich aus.

So schloss sich zum Beispiel ein frisch aus Algerien zurückgekehrter Jean-Francois Lyotard gleich zu Beginn des Krieges dem sogenannten »Kofferträger«-Netzwerk an, das die algerische Unabhängigkeitsbewegung auf französischem Boden mit Geldtransfers und Waffenschmuggel heimlich unterstützte – ein militanter Akt, den Lyotard nur unter großen Gefahren vollzog. Pierre Bourdieu befand sich die meiste Zeit des Krieges in Algerien – zunächst als einberufener Soldat, danach aus freien Stücken als Wissenschaftler an der Universität, um der Öffentlichkeit zu zeigen, wie Kolonialismus und Krieg die Grundlagen einer ganzen Gesellschaft
zerstörten. Étienne Balibar und Jacques Rancière erlebten den Algerienkrieg wiederum als junge Pariser Studenten, denen die Einberufung erspart blieb. Beide waren engagierte Kriegsgegner und gingen dafür auf die Straße; Balibar wurde bei einer dieser Demonstrationen von der Polizei zusammengeschlagen. Der ältere Roland Barthes war trotz seiner offenkundig kritischen Einstellung gegenüber dem französischen Kolonialsystem nur wenig geneigt, bei der Algerienfrage gemeinsame Sache mit anderen linken Intellektuellen zu machen, die mit Petitionen und Protesten ihren Einfluss auf die öffentliche Meinung ausüben wollten. Stattdessen suchte er seine Interventionsmöglichkeiten als Intellektueller in der Sprachanalyse politischer Machtideologien. Auch Michel Foucault hielt sich eher bedeckt, aber er tat dies aus anderen Gründen: Er fand, dass der 1958 zurück an die Macht gekommene und von vielen Linken verhasste General de Gaulle eine historische Chance für Algerien und Frankreich darstellte. Foucault sprach seine Ansichten zum Algerienkrieg aber nie öffentlich aus. Für die beiden aus Algerien stammenden Jacques Derrida und Hélène Cixous bedeutete der Krieg das nächste Beben in ihrer ohnehin konfliktbeladenen Heimat. Sie waren beide prinzipiell gegen das Fortbestehen des französischen Kolonialismus, wussten aber auch, dass eine algerische Unabhängigkeit für ihre jüdischen Familien den Verlust der Heimat bedeuten könnte, was sich bei Kriegsende bewahrheitete.

Bei aller Unterschiedlichkeit lässt sich in diesen vielfältigen Wahrnehmungen und Positionen dennoch eine erstaunliche Übereinstimmung erkennen. Alle diese Intellektuellen suchten eine Antwort auf ein und dieselbe Frage: Wie lässt sich angesichts des Leids und der verworrenen Kriegssituation eine halbwegs moralische Haltung einnehmen? Ein sehr auffallendes Merkmal, das sich bei fast sämtlichen Auseinandersetzungen bemerkbar machte, waren die vielen Schuldgefühle, die die Protagonist*innen im Hinblick auf die koloniale Situation äußerten – das ständige Gefühl, in welcher Form auch immer eine Schuld abtragen und etwas gegen das Unrecht tun zu müssen. Diese Omnipräsenz der individuellen und kollektiven Schuldfrage gehört zu den mit Abstand bemerkenswertesten Erkenntnissen, die der Gang durch die einzelnen intellektuellen Biographien zu Tage gefördert hat.

Eine weitere Auffälligkeit betrifft die große Zahl an Schlüsselereignissen und Erweckungsmomenten, die die französischen Intellektuellen vor den Kulissen des Südens erlebten. Sie hatten weniger mit dem Algerienkrieg als solchem als mit ihren vorhergehenden und nachfolgenden Aufenthalten in den Kolonien beziehungsweise ehemaligen Kolonien zu tun. Das zeigte sich zum Beispiel eindrucksvoll bei Barthes, der sich in Casablanca an einem drückenden Samstagnachmittag im April 1978 in einer Art Epiphanie zu einem Romancier phantasierte. Foucault kamen an den tunesischen Stränden von Djerba und Sidi Bou Saïd nicht nur Gedankenblitze für Schlüsselsätze, die später den Ruhm seiner Bücher mitprägten; er erlebte während der studentischen
Proteste an der Universität von Tunis auch eine Art Feuertaufe in Fragen des politischen Engagements. Lyotard verdankte seinem Aufenthalt im algerischen Constantine vor Beginn des Krieges sein ganzes politisches und intellektuelles »Erwachen«, während Algerien es Bourdieu ermöglichte, »sich selbst zu akzeptieren«, was nicht nur das Wissen um die eigene soziale Herkunft miteinschloss, sondern auch die Freiheit und den Mut, wissenschaftlich neue Wege einzuschlagen. Die algerischen Schlüsselereignisse von Derrida und Cixous lagen hingegen in einer weit entfernten Kindheit. Sie handeln vom Antisemitismus unter dem Vichy-Regime in Algerien, von Ausschlüssen, Kränkungen und tiefen Wunden, die nicht so ohne Weiteres verheilen sollten und dafür umso mehr ihr Denken und Schreiben prägten.

So unterschiedlich diese einzelnen Schlüsselerlebnisse in ihrem Stellenwert für die jeweiligen Lebensläufe und teilweise in ihrer Inszenierung waren, so zeugen sie allesamt von einem tiefen menschlichen Bedürfnis, die eigene intellektuelle Existenz und ihre Verwandlung auf einzelne Schicksalsmomente in der Fremde erzählerisch zurückzubinden. Auf Reisen wie auch in Erzählungen sucht man bekanntlich sich selbst. Dass diese Momente in der Fremde stattfanden, hatte im vorliegenden Fall teilweise einen kolonialen Beigeschmack, weil die jeweiligen Orte mitunter exotisiert wurden. Aber in ihrer Gesamtheit stellten die Behauptungen, eine Schlüsselerfahrung erlebt zu haben, keineswegs plumpe kulturelle Aneignungen oder schöngeistige Lippenbekenntnisse dar. Gerade die Schuld, die viele Protagonist*innen dieses Buchs gegenüber den kolonisierten Ländern und ihren Gesellschaften fühlten, speiste sich vor allem aus dem Umstand, dass man direkt vor Ort war, die schockierende Unermesslichkeit des Unrechts förmlich vor Augen geführt bekam und dabei auch Scham für das Verhalten des französischen Staates empfand. Auf gewisse Weise war dieses Gefühl von Schuld (französisch dette) immer auch begleitet von einer Art Dank (ebenfalls dette), diese Erfahrungen des Kolonialen gesammelt und die Augen geöffnet bekommen zu haben.

Die kolonialen Erfahrungen blieben nicht auf Lebensschicksale oder politisch-moralische Einstellungen begrenzt, sondern schlugen sich auch in den Theorien und Werken nieder. Vor dem zeithistorischen Hintergrund des Kolonialismus werden viele bekannte Bücher der französischen Theorie besser verständlich. So lassen sich etwa die Mythen des Alltags, die Barthes in seinem gleichnamigen Buch dechiffrierte, nicht auf die allseits bekannten französischen Nationalsymbole wie die Tour de France oder den Citroën DS reduzieren. Mindestens genauso breit und vielfältig sind die Artikel, in denen sich Barthes mit den zeitgenössischen Mythen des französischen Kolonialismus beschäftigte. Der Kolonialismus ist allgegenwärtig in diesem Buch. Wer verstehen will, wie er als Ideologie im Alltag der 1950er-Jahre funktionierte (und wie postkoloniale Mythen auch heutzutage noch funktionieren), sollte das Buch unter diesen Vorzeichen lesen. Lyotards zentraler postmoderner Befund, demzufolge das Ende der großen Erzählungen erreicht sei, lässt sich weiterhin als Kritik an modernen Fortschrittsideologien von Wissenschaft oder Marxismus begreifen, aber die ersten historischen Anhaltspunkte für die Widersprüche und den Niedergang der westlichen Moderne fand Lyotard im kolonialen Algerien, als er als Schullehrer vor den bildungspolitischen Trümmern der französischen Zivilisierungsmission stand. Und wer Bourdieus Theorie des Habitus einmal ausnahmsweise nicht entlang konventioneller Beispiele (etwa der sozialen Reproduktionsmechanismen des französischen Bürgertums) verstehen will, sollte einen Blick darauf werfen, wie Bourdieu auf das Phänomen des Habitus auf der Grundlage ethnologischer Beobachtungen der kabylischen (und pyrenäischen) Gesellschaft gekommen ist. […]

Bevor in Frankreich die kollektive Erinnerung an die Zeit der Dekolonisierung einsetzte (und das wohlverstanden nur zaghaft und begleitet von polemischen Debatten), herrschte über Jahrzehnte hinweg kollektives Schweigen und Vergessen. […] Die koloniale Amnesie in der französischen Gesellschaft ist auch ein wichtiger Grund dafür, dass die kolonialen Dimensionen der französischen Theorie dort so lange unbeachtet blieben. Anders lässt es sich nicht erklären, dass in den vergangenen Jahrzehnten zwar eine Unmenge an Literatur zur französischen Philosophie produziert wurde, aber keine einzige darunter sich dem Zeitabschnitt der Dekolonisierung oder den Aufenthalten der Intellektuellen in den ehemaligen Kolonien widmete. Hinzu kommt, dass es bis in die Nullerjahre keine nennenswerten postkolonialen Studien in Frankreich gegeben hat, die eine Problematisierung hätten vorantreiben können – auch das ein Resultat und Teil der reflexhaften Abwehr von Erinnerung, wenn es um den Kolonialismus ging. […]

Nach den kolonialen Wurzeln der französischen Theorie zu suchen heißt, auf einer übergeordneten Ebene auch die Frage zu stellen, was das Denken mit seinem Ort und seiner Zeit zu tun hat. Hat die Philosophie eine Herkunft? Welche Verbindung gibt es zwischen der Philosophie und ihrer Epoche? Das sind keineswegs abwegige Fragen. Sie berühren ein klassisches Thema der Philosophie, vielleicht führen sie sogar in ihr Zentrum. Auf der Suche nach den Ursprüngen der Philosophie fragt man sich schließlich seit Jahrhunderten, warum die Philosophie ausgerechnet im antiken Griechenland entstanden ist, zu diesem bestimmten Zeitpunkt und an diesem bestimmten Ort. In Was ist Philosophie? haben Gilles Deleuze und Félix Guattari eine, wie ich finde, bedenkenswerte Antwort gefunden, indem sie philosophische Positionen geopolitisch verorten, ohne dass sie einer nationalen Herkunftslogik zum Opfer fallen. Sie behaupten, dass die ersten Philosophen »Fremde auf der Flucht« waren und »vom Rand der griechischen Welt« nach Athen kamen. Als »Emigranten« wurden sie sich dort selbst fremd, ihrer Sprache und ihrer Nation. Im griechischen Milieu fanden sie zu dem, was Philosophie laut Deleuze und Guattari im Kern ausmacht: Begriffe finden und erfinden, um die vorgefundene Welt um sich herum besser zu begreifen. Die Protagonist*innen der französischen Theorie sind für mich ebenfalls Fremde. Sie sind in die Schule des Südens gegangen, wurden sich selbst dabei fremd, ihrer Sprache und ihrer Nation, und haben dadurch ihre Philosophie und ihren Stil gefunden.

1 Dieser Text ist eine gekürzte Version des -Nachwortes aus Schule des Südens. Die kolonialen Wurzeln der französischen Theorie. Berlin 2024 (Verlag Matthes & Seitz).


Onur Erdur ist Historiker und Kulturwissenschaftler und arbeitet an der Humboldt Universität Berlin.