Ich erinnere mich, dass Pierre Bourdieu vor 16 Jahren, kurz nach der schwarz-blauen Regierungsbildung, eine Videobotschaft nach Österreich sendete. Ich erinnere mich, dass vor 16 Jahren die Lissabon Strategie verfasst wurde. Sie handelte vom strategischen Ziel eines wettbewerbsfähigen, dynamischen, wissensbasierten EUWirtschaftsraums. Ich erinnere mich, dass erst vor 14 Jahren das am längsten bestehende Kolonialreich Europas, dessen Hauptstadt Lissabon hieß, durch die Unabhängigkeit von Osttimor formal beendet wurde. Ich erinnere mich, dass vor 16 Jahren die schwarz-blaue Regierung nur durch einen unterirdischen Gang in die Präsidentschaftskanzlei gelangen konnte. Ich erinnere mich an die Donnerstagsdemonstrationen.
Ich erinnere mich, dass Bush vor 26 Jahren die neue Weltordnung deklarierte. Ich erinnere mich, dass Bourdieu über Tony Blair sprach, und dass er die Haltung von Blair im damaligen Treffen zur Verfassung der Lissabon Strategie kommentierte: „in europäischen Fragen noch reaktionärer gebärdet als ein rechter französischer Staatspräsident“.
Ich erinnere mich, dass Neoliberalismus eine konservative Revolution genannt wird.
Ich erinnere mich, dass Kritik an Neoliberalismus nicht unbedingt Kapitalismuskritik beinhaltet. Ich erinnere mich, dass vor sechs Jahren die Lissabon Strategie in einer Evaluation als gescheitert bezeichnet wurde. Ich erinnere mich, dass es bei der Nachfolge-Strategie „Europa 2020“ u.a. um die Verbesserung und Flexibilisierung des rechtlichen Rahmens für Beschäftigung geht. Ich erinnere mich, dass Teilzeitarbeit ein weit verbreitetes Phänomen ist. Ich erinnere mich, dass vor 16 Jahren ein Viertel der erwerbstätigen Frauen in Österreich teilzeitbeschäftigt war. Ich erinnere mich, dass vor 6 Jahren 32% der Frauen in Österreich teilzeitbeschäftigt waren. Ich erinnere mich, dass vor einem Jahr einen Rekord in Österreich erreicht wurde: die Teilzeitquote bei Frauen lag bei 48%. Ich erinnere mich, dass Migrantinnen im Vergleich zu den Österreicherinnen mehr als doppelt so oft armutsgefährdet sind.
Ich erinnere mich an Asylpolitik.
Ich erinnere mich an die Bezeichnung „de facto Flüchtling“, damals war Löschnak Innenminister und es war vor 24 Jahren. Ich erinnere mich an Bourdieus Empfehlung, nicht nach Belehrung zu suchen, sondern Lehren zu ziehen. Ich erinnere mich, dass ich mich 16 Jahre später im Herbst nach den Wahlen in Oberösterreich und in Wien wiederholt öffentlich für die Notwendigkeit aussprach, rück- und around zu blicken und Lehren zu ziehen. Ich erinnere mich, dass 15 Jahre später 20 Jahre Europäischer Sozialfonds (ESF) in Österreich gefeiert wurden und dass eine Publikation mit dem Titel Das soziale Gesicht Österreichs herausgegeben wurde.
Ich erinnere mich, das der ehemalige Leiter der ESF-Programme in Österreich, Michael Förschner, im Interview für diese Publikation behauptete, dass „In den Gremien der Europäischen Kommission sich kaum jemand darum [kümmert], ob die gesetzten Maßnahmen erfolgreich waren und ob mehr Menschen dadurch Arbeit haben oder nicht. Einzig die korrekte Abrechnung interessiert.“ Ich erinnere mich, dass vor 14 Jahren Selbstorganisationen von diskriminierten Gruppen in Österreich eine Partnerschaft bil- deten und zwei aufeinander folgende Equal-Projekte durchführen konnten. Das Projekt wurde durch die EU finanziert.
Ich erinnere mich, dass es kein Zufall ist, wer wie oft kontrolliert wird.
Ich erinnere mich, dass vor zehn Jahren diese Equal-Partnerschaft den Text Controlling? Killtrolling! in dieser Zeitschrift veröffentlichte. Ich erinnere mich, dass im Text erwähnt wurde, dass die Vergabe und Kontrolle der Projekte an Vorgaben gebunden sind, die strukturelle und inhaltliche Eingriffe in Selbstorganisationen nach sich ziehen und immer wieder zu einer Entpolitisierung der Vereine und Hierarchisierung der Strukturen führen. Ich erinnere mich, dass maiz seit zehn Jahren wiederholt geprüft wird.
Ich erinnere mich, dass die EU-Mitgliedstaaten einen Beitrag leisten sollen, um die EU als einen attraktiven Raum für Investitionen und Arbeit zu gestalten: aktive Wettbewerbspolitik und Reduzierung von Beihilfen. Ich erinnere mich, dass 2015 Intellektuelle behaupteten, dass eine dezidierte Sozialpolitik die einzige Alternative für Europa sei. Ich erinnere mich an die Austeritätspolitik der EU. Ich erinnere mich an Griechenland. Ich erinnere mich an Spanien. Ich erinnere mich an Multitude. Ich erinnere mich an Äquivalenzkette. Ich erinnere mich an Anteilslose.
Ich erinnere mich an Regierung von unten.
Ich erinnere mich an Sozialbewegungen. Ich erinnere mich, dass ich mich immer wieder frage, welche Bewegungen Intellektuelle damit meinen. Ich erinnere mich, dass Bourdieu damals meinte, dass Intellektuelle sich fragen sollten, ob und wodurch sie zu Kollaborateuren der Entwicklung in Österreich geworden sind.
Ich erinnere mich, dass Bourdieu vor 16 Jahren sich für wirksame symbolische Aktionen aussprach. Ich erinnere mich, dass ich damals einverstanden war. Ich erinnere mich, dass nach der schwarz-blauen Regierungsbildung der Zusammenhang Antirassimus, Kunst und Aktivismus in Österreich präsenter wurde. Ich erinnere mich, dass ich mich fragte, woran die Wirkung symbolischer gegenhegemonialer Aktionen erkannt werden kann.
Ich erinnere mich, dass Gramsci eine Partei gründete. Ich erinnere mich, dass es versucht werden sollte, neue Strukturen des Widerstands und einen neuen Internationalismus zu schaffen. Ich erinnere mich, dass ein behinderter Mann, der in einer Organisation für die Rechte von Behinderten engagiert ist, mich streitend beschuldigte, ich würde nur über Migrant_innen und Flüchtlinge schreiben.
Ich erinnere mich an mein Unbehagen.
Ich erinnere mich, ihm gesagt zu haben, er habe Recht. Ich erinnere mich an die Notwendigkeit der Zusammenarbeit zwischen politischen agierenden Gruppen. Ich erinnere mich, dass der ehemalige Leiter der ESF Programme sagte, dass die EU eine bestimmte Wirtschafts- und Fiskalpolitik bräuchte, um das soziale Zusammenwachsen effektiv fördern zu können. Ich erinnere mich, dass er nicht danach gefragt wurde, welche Wirtschafts- und Fiskalpolitik er meinte.
Ich erinnere mich, dass die Demokratie in einer Krise ist.
Ich erinnere mich, dass, seit die Videobotschaft gesendet wurde, 30.000 Menschen im Mittelmeer starben. Ich erinnere mich, dass die Austeritätspolitik der EU soziales Elend hervorruft. Ich erinnere mich, dass Kämpfe gegen Ungleichheit und Diskriminierung – nicht immer unter Berücksichtigung von Geschlechtergerechtigkeit – geführt wurden und werden. Ich erinnere mich, dass trotz des Mantras der Alternativlosigkeit, Wissen über die Möglichkeit der Veränderung der herrschenden gewaltvollen mörderischen Ordnung besteht. Ich erinnere mich, dass die Not global sehr unterschiedlich verteilt ist. Ich erinnere mich, dass ein Großteil der Menschen, die in Armut leben, sich in Ländern befinden, die ehemaligen Kolonien Europas sind. Ich erinnere mich, dass Bourdieu vor 16 Jahren meinte, dass Österreich aus dem Schlaf aufgeschreckt sei und dass es ganz Europa aus dem Schlaf rütteln konnte. Ich erinnere mich an ein Sujet einer Ausstellung in maiz 15 Jahre nach der schwarz-blauen Regierungsbildung: Schläft dein Hund gut? Ich erinnere mich, dass diese Frage Flüchtlinge, die in Zelten untergebracht wurden, vorschlugen. Ich erinnere mich, dass ich 16 Jahre später oft nicht schlafen kann.
Rubia Salgado ist als Erwachsenenbildner_in, Kulturarbeiter_in und Autor_in in selbstorganisierten Kontexten tätig. Sie ist Mitgründer_ in und langjährige Mitarbeiter_in der Selbstorganisation maiz – Autonomes Zentrum von und für Migrantinnen und arbeitet seit 2015 auch im neuen Verein das kollektiv. kritische bildungs-, beratungs- und kulturarbeit von und für migrantinnen.