Enrique Dussel ist ein Philosoph des Überblicks. Seine sozialanalytische Philosophie versucht entgegen aller Wahrscheinlichkeit und Komplexität das gigantische Projekt der Befreiung zusammenzuhalten – von der „Entdeckung und Darstellung aller Momente der Ungerechtigkeit“ in Globalisierung und Moderne, Kultur und Geschichte, Wirtschaft und Politik, Pädagogik und Partnerschaft bis hin zur „authentischen Befreiung“, der realen Möglichkeit für eine eigenständige Subjektwerdung.
Dussels Ansatz dafür ist eigentümlich. Er setzt auf den erkenntnistheoretischen Zugang des Dialogs – einerseits hermeneutisch, anderseits methodisch. Was die indigene Kosmologie als digerir – „nach eigenen Maßstäben verdauen“ – bezeichnet, wendet Dussel, mit allen theoretischen Wassern und Diskursen gewaschen, auf seine eigene philosophische Arbeit an. Dussel ist niemand, der gegenaufklärerische Affekte verfolgt, sondern – ganz im Gegenteil – seine philosophischen Positionen im Dialog mit zahlreichen europäischen Denkern (z.B. Ricoeur, Habermas, Apel, Derrida) ausbildet – aber eben auch verdeutlicht, dass das Universale ohne das kulturell Besondere nicht zu existieren vermag, das kulturell Distinkte nicht ohne Reflexion der herrschenden Kräfteverhältnisse und tatsächliche Befreiung nicht ohne Rekonstitution (recuperación) der unterdrückten Alterität.
Im Gespräch nicht immer bloß sich selbst zu hören, im Hinsehen nicht nur das Eigene zu sehen – Dussels hermeneutischer Ausgangspunkt in der Neu-Begründung einer eigenständigen lateinamerikanischen Philosophie setzt bei der konkreten Situation der ‚Armen’ an – der manifesten Alterität: „Alles im Licht des unterbrechenden Wortes des Volkes denken, des Armen, (…), in unendlicher Verantwortlichkeit und vor dem Unendlichen, das ist Philosophie der Befreiung.“ Priorität hat immer der hilfsbedürftige Mensch. Diese Vorgängigkeit aber bedeutet für Dussel auch Rigoroses: „Der Unterdrückte braucht keine Anerkennung!“. Befreiung ist nur durch die Unterdrückten selbst möglich – „als ein Prozess des Kampfes“. Dass dieser Ansatz nicht im Abstrakten steckenbleibt, beweisen zahlreiche soziale Bewegungen in Lateinamerika, die sich – wie die EZLN in Mexiko – ausdrücklich auf die Befreiungsphilosophie beziehen.
Die philosophische Theorie hat die Dialektik von Erkennen/ Verkennen rastlos interpretiert. Selten aber aus der radikalen Perspektive jener Subjekte, denen die herbeitheoretisierte Anerkennung zuteilwerden soll. In einer konsequenten Umorientierung der Ethik von symmetrischen Wechselseitigkeitsverhältnissen zu asymmetrischen Verantwortungsbeziehungen folgt Dussel deshalb dem dialogischen Denken von Emanuel Lévinas, der wie kein anderer Denker einen Auflösungsprozess überkommener erkenntnistheoretischer Formeln in Gang gesetzt hat. Dussel korrigiert – wie Lévinas – die Ethik im Zeichen des Anderen. Anders als Lévinas, der seine Position auf die anti-narzisstische Formel „Nach Ihnen, mein Herr!“ brachte, verortet er die uneinhol bare Exteriorität des Anderen jedoch geopolitisch woanders, nämlich als otro latinoamericano, bei dem es eine Art von randständiger Alterität gibt, die nicht verstanden werden will, eine Art Unvereinbarkeit, an der nicht zu rütteln ist. Diese Alterität ist die „koloniale (epistemische) Differenz“.
Es ist der Stoff, aus dem Europa seine narrative Identität webt, der diese Differenz macht- und dependenztheoretisch konstituiert und gleichzeitig den symptomatischen Punkt markiert, an dem sich – so Dussel – der (gewaltvolle) Irrtum des ‚west – lichen’ Projekts zeigt: Die eurozentristische Sicht auf die Moderne verschweigt ihre dunkle Seite – die Kolonialität – und betreibt stattdessen die hegemoniale Vereinheitlichung der Welt im Namen der ‚westlichen’ Zeichen. Europäische Philosophie ist für Dussel deshalb immer auch – durch ihren kolonialen Entstehungskontext befangen – ein unumgänglich europäischer Selbstverständigungsdiskurs.
Diesem „Okzidentalismus“ (Kolonialität der Macht, des Wissens und des Seins) setzt Dussel die Gegendiskurse der lateinamerikanischen Welt und die Neugier gegenüber den Entwicklungen der Kulturen der Vergangenheit und der Gegenwart entgegen. Er skizziert eine kritische Theorie der Transmoderne jenseits des politischen Messianismus linker Bewegungen, die multiple Modernitäten, Intuition und Empathie zulässt, auch divergierende Begriffe des Fortschritts, und ein Gerüst der Vernunft, das die Abstraktion des rationalen Universalismus überwindet.
Dussels Werk ist geprägt von tiefem Nachdenken über das, was die Befreiung an Bedingungen und Möglichkeiten vorgibt. Wer das im Detail verstehen will, muss bisweilen dickichthafte Pfade philosophischer Argumentation überstehen. Auch wird man Dussel schwerlich ohne die spezifische Kultur- und Religionsgeschichte Lateinamerikas verstehen, ohne Einsicht in die lateinamerikanische Realität, die deutlich von der Europas abweicht. Dafür bietet Dussel höchstes theoretisches Niveau in der Erkundung der Alterität und eine geradezu praktische Anleitung zur Befreiung. Seine Philosophie ist eine atemberaubende Bildungsreise, die einen kontrastbildenden Schatten wirft, vor dem die Gewaltgeschichte der Moderne und das Unbehagen an ihren Lebensformen sichtbar wird. Das alles macht Dussel zu einem der ganz großen – leider aber hierzulande nur wenig rezipierten – Protagonisten in den Sozialwissenschaften und seine Philosophie der Befreiung zu einem mächtigen Impuls für den philosophisch-ethischen Diskurs. Gerade für ein Europa in der Flüchtlingskrise.
Jan Niermann ist Kulturwissenschaftler und Autor von Schlingensief und das Operndorf Afrika. Analysen der Alterität (2013). Er lebt in Hamburg.