Bildpunkt: Sophia, Du warst als Kuratorin an der Ausstellung Von Zwentendorf zu CO2. Kämpfe der Umweltbewegung in Österreich beteiligt, die im Wiener Volkskundemuseum zu sehen war. Eine historische Perspektive ist u.a. wichtig, um heutige Aktivismen etwa von Fridays for Future und der Letzten Generation nicht als gänzlich neue Phänomene wahrzunehmen. Welche Kontinuitäten siehst du zwischen den Kämpfen der 1970er Jahre und heute und worin bestehen die frappantesten Unterschiede?
Sophia: Gerade die Kämpfe der Umweltbewegung in den 1970er Jahren weisen zum Teil erstaunliche Ähnlichkeit zu heutigen auf. Die Konfliktlinien in der Auseinandersetzung um „Wirtschaftswachstum um jeden Preis“ oder einer Verringerung des Ausmaßes des sozial-ökologischen Stoffwechsels mit der Natur – also unserem gesellschaftlichen Verbrauch an Material, Energie und damit auch Naturräumen – waren häufig sogar klarer formuliert als in unseren heutigen Debatten. Mit der Studie Grenzen des Wachstums 1972 und dem Bewusstsein der Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen durch die „Ölpreisschocks“ war das eigentliche Problem bereits vor 50 Jahren am Tisch. Ein Unterschied zur Gegenwart ist beispielsweise, dass Aktionen wie die Aubesetzung in Hainburg 1984 heute aufgrund geänderter Rechtslage deutlich schwieriger geworden sind. Unter anderem sehen sich Umweltschützer*innen immer wieder von zivilrechtlichen Schadensersatzklagen bedroht.
Bildpunkt: Marshall, du warst im letzten Winter bei der Auditorium-Besetzung erde brennt an der Universität für Angewandte Kunst dabei. Die Besetzungsbewegung, die es an verschiedenen Unis in Österreich gab, scheint im Nichts verpufft. Oder siehst du das anders?
Marshall: Leider kommt man mit Uni-internem Bürokratie-Zeug nicht aufs Titelblatt der Krone. Wir sind nicht verpufft. Die Uni-Bewegungen sind im konstanten Austausch mit diversen Instanzen der Universitäten und die Verhandlungen zu einigen unserer Forderungen sind im Gange. Die erde-brennt-Bewegung an der Angewandten, der Uni-Wien und anderen trifft sich weiterhin, plant, verhandelt und organisiert. Updates und Programm findet ihr auf den Instagram-Kanälen und Telegramm-Tickern (IG: @erdebrennt_uni_wien, @erdebrennt_angewandte, @erdebrennt_salzburg, @erde_brennt_zurich, @erde_brennt_linz). Prinzipiell ist nach dem Besetzen vor dem Besetzen, aber zwischen dem Besetzen kann man nun mal nicht besetzen, sondern muss Nach- und Vorarbeit leisten.
Bildpunkt: Der weltweite CO2-Ausstoß hat sich seit der ersten Klimakonferenz 1992 um rund 60 Prozent erhöht, die Gletscher der Alpen haben seit Mitte des 19. Jahrhunderts etwa ein Drittel ihrer Gesamtfläche eingebüßt; Hitzewellen, Waldbrände, Anstieg des Meeresspiegels – die Indizien für die Klimakatastrophe sind so vielfältig wie unübersehbar. Warum gibt es keine politischen Mehrheiten für die sozial-ökologische Transformation der Gegenwartsgesellschaften?
Marshall: Dass wir in Nordeuropa noch wenig unangenehme Folgen der Klimakrise erleben, ist ein wichtiger Grund dafür. Desweiteren muss diese Frage klassenanalytisch bzw. klassismuskritisch betrachtet werden. Warum Menschen mittleren Einkommens keine politische Mehrheit für eine sozial-ökologische Transformation bilden, liegt meiner Meinung nach am Einzelkämpfer_innen*-Mindset, welcher eine*n von allem außerhalb des eigenen finanziellen Erfolges abkapselt. Menschen der Mittelschicht haben das Privileg, in diesem System ein angenehmes Leben führen zu können. Und Greenwashing kann überzeugend sein. Menschen des Prekariats sind leider oft 40+ Wochen-Stunden damit beschäftigt, im Kapitalismus zu überleben, d.h. Lohnarbeit und oft Care-Arbeit auszuführen. Sie haben nicht wirklich Zeit, eine sozial-ökologische Transformation durchzuführen. Darüber, was den oberen Einkommensschichten so durch den Kopf geht, gibt es viele Theorien.
Sophia: Es wird noch immer so getan, als wäre die Klimakatastrophe ein Problem, dass nicht durch eine planende und eingreifende Politik, sondern vor allem durch individuelle Konsumentscheidungen angegangen werden könnte. Es wurden keine demokratischen Institutionen geschaffen, die effizient in die Ausformung unseres Wirtschaftens und damit des gesellschaftlichen Stoffwechsels mit unserer Umwelt eingreifen können, weshalb vom Klimavolksbegehren beispielsweise ein Klimarechnungshof mit entsprechenden Kompetenzen gefordert wird.
Bildpunkt: Vor zwanzig oder dreißig Jahren setzte die Klimabewegung noch auf radikalen gesellschaftlichen Wandel, um das 1,5 Grad Ziel zu erreichen. Jetzt scheint Schadenbegrenzung das einzig realistische Ziel. Ihr seid beide auch in der Klimabewegung aktiv. Wo setzt ihr an?
Sophia: Ich finde es gerade jetzt wichtig, einen grundlegenden Wandel in unserem gesellschaftlichen Naturverhältnis zu fordern, einen fair gestalteten Ausstieg aus fossilen Brennstoffen und eine auf Gemeinwohl und Bedürfnisbefriedigung aller ausgerichtetes Wirtschaften. Die Klimagerechtigkeitsbewegung fordert diesen gesellschaftlichen Wandel weiterhin.
Marshall: Es ist eine Realität, dass die kapitalistische Lebensweise des Globalen Nordens die Verursacherin multipler globaler Krisen und Verstärker systemischer Gewalt ist. An der Überwindung des Kapitalismus setze ich an. Dafür ist eine Vielfalt von aktivistischen Methoden des Widerstands notwendig. Neben radikaleren Aktionen wie Besetzen, sich an die Straße Betonieren und anderes, muss es auch diejenigen geben, die Bienenwachstücher-Workshops machen oder Perma-Kulturen lokal aufbauen. Es muss eine gute Mischung aus Protesten und Störaktionen in Wirtschaft und Politik, simultan zum Aufbau alternativer Wirtschaftskreisläufe und solidarischer Lebensweisen geben.
Bildpunkt: Häufig werden ökologische Anliegen und soziale Gerechtigkeit gegeneinander ausgespielt. Wieso gehören Umweltschutz und der Einsatz für mehr soziale Gleichheit zusammen?
Marshall: Das lässt sich am Begriff Climate Justice oder Gerechtigkeit wunderbar erklären. Dieses Konzept bezieht sich auf die Verbindung aller Krisen miteinander, anhand von intersektoral systemischer Gewalt. Somit wird die Verbindung von Umweltverschmutzung im Globalen Süden mit systemischem Rassismus sichtbar gemacht, welcher durch postkoloniale Strukturen von Ausbeutung durch den Globalen Norden aufrechterhalten wird. Oder, dass der CO2 Ausstoß zu einer überwiegenden Menge von Firmen des Globalen Nordens zu verantworten ist, die Folgen der Klimakrise jedoch bis jetzt BiPoc im Globalen Süden am stärksten trifft.
Sophia: Die Frage lautet nicht: Umweltschutz – und damit Sicherung unserer Lebensgrundlagen – oder soziale Gerechtigkeit? Die Frage ist, ob wir es endlich angehen, alternative, gemeinwohlorientierte Zwecke des Wirtschaftens zu definieren. Ob wir den Reichtum, der bleibt, wenn der Stoffwechsel mit der Natur notwendigerweise eingeschränkt wird, gerecht und bedarfsorientiert verteilen, oder eben nicht. Es wäre ja genug für alle da, wenn wir beispielsweise die Übergewinne von Konzernen gesellschaftlich aneignen würden, statt Alleinerziehenden die Beihilfen und Lehrerstunden in öffentlichen Volksschulen zu kürzen – wie es gerade in der Schule meiner Tochter passiert.
Bildpunkt: Bei der Cop27 wurden von Seiten des Globalen Südens erneut Forderungen nach Reparationen laut. Selbst Unterstützer:innen von Ausgleichszahlungen reicher Länder an arme Länder kritisierten diesen Begriff jedoch als hinderlich für die Verhandlungen und mahnten eine andere Sprache an. Die Premierministerin von Barbados, Mia Mottley, schlägt nun eine Reform der internationalen ‚Entwicklungshilfe’ im Sinne des Klimaschutzes vor. Was tun gegen die global ungleiche Verteilung der Schäden des Klimawandels?
Sophia: Reichtum muss global so verteilt werden, dass ein menschenwürdiges Leben für alle möglich ist, auch um Kriegen und Flucht entgegen wirken zu können, die durch massive Verknappung natürlicher Ressourcen und Lebensgrundlagen in der Klimakatastrophe zu erwarten und leider schon heute Lebensrealität unzähliger Menschen ist. Nachhaltiges Management der natürlichen Ressourcen und Lebensgrundlagen ist bitter nötig, um Frieden zu erhalten.
Marshall: Reparationszahlungen sind die Bekämpfung von Symptomen der Klimakrise, wobei ich verstehe, dass die Bekämpfung der Ursache der Klimakrise eine ganz andere Dimension von Kampf ist. Die Beendigung des Extraktivismus des Globalen Nordens und der „imperialen Lebensweise“ von Mittel- und Oberschicht dort, ist die Bekämpfung der Ursache. Das würde gegen die ungleiche Verteilung der Schäden der Klimakrise helfen. Jedoch wären Reparationszahlungen, da wir in einem kapitalistischen System leben, meiner Meinung nach gerechtfertigt, wenn auch alleine mit dem Ziel, dass Leid temporär vermindert werden kann.
Bildpunkt: Noch Ende April fragt die Frankfurter Allgemeine Zeitung ernsthaft „Entsteht eine Klima-RAF?“ Der Terrorverdacht war von medialer wie auch von staatspolitischer Seite schon öfter gegen die Klimabewegung vorgebracht worden. Angesichts der realen Mobilisierungen handelt es sich wohl vor allem um eine Strategie der Delegitimierung. Aber ein Imageproblem hat die Klimagerechtigskeitsbewegung allemal. Wie damit umgehen?
Marshall: Das ist eine gute Frage. Ich würde sagen, die beste Methode, dieses „Imageproblem“ zu lösen, ist in Diskussionen zu gehen, Aufklärungsarbeit an Bildungseinrichtungen, im Freundeskreis und der Familie zu machen und Interviews zu geben. Durch Social Media sind wir nicht mehr abhängig von der politischen Agenda von Herausgeber_innen* und der Presse. Wir haben Instagram-Kanäle, Telegramm-Channels und Signal-Gruppen, welche durch ihre Berichterstattung und Informationsfluss von Foto, Video und Text das negative mediale Image von Klimabewegungen und die Verharmlosung der Klimakrise dekonstruieren.
Sophia: Ganz klar, die jungen Klimaaktivistis verteidigen und unterstützen. Die Radikalen sind nicht die Klimaaktivistis, sondern ihre Gegner*innen. Immerhin waren die jungen Klimaaktivist*innen der LobauBleibt-Bewegung erst letztes Jahr nicht Ausführende, sondern Opfer eines Brandanschlags. Ich halte es für höchst bedenklich, dass vielen Politiker*innen unserer Demokratie der ungestörte automobile Morgenverkehr wichtiger ist als das Recht auf Protest. In einem Essay im letzten Datum-Magazin hieß es, wenn selbst einfachste und billigste klimapolitische Maßnahmen wie Tempobeschränkungen im Autoverkehr als gefährliche Angriffe auf die „Freiheit“ bekämpft werden, sind es ganz klar konservative Politiker*innen, Medienmacher*innen und Rechtspopulist*innen, die hysterisch und radikal sind. Es gibt kein Menschenrecht auf Tempo 130, wohl aber eines auf körperliche Unversehrtheit aller Menschen.
Sophia Rut ist freie Kuratorin und Umwelthistorikerin, arbeitet momentan an einem künstlerischen Forschungsprojekt zur Lobau und lebt in Wien.
Marshall Paul ist Sinologiestudent_in* an der Freien Universität Berlin, studierte an der Universität für Angewandte Kunst von März 2022 bis März 2023, ist Teil des Kunst-Kollektivs Maximaler Kunst Raum e.V., und von erde brennt u.a. und lebt derzeit in Berlin.
Das „Gespräch“ wurde im Mai 2023 von Sophie Schasiepen und Jens Kastner per E-Mail geführt.