Ein progressiver Populismus für Europa?

1. „Populist“ gilt in der politischen Landschaft Europas als Schimpfwort. Verständlicherweise, ist Populismus hierzulande doch in der Regel ein Reflex auf Entwicklungen des globalen Kapitalismus, der politisch von rechts kommt. Seit den 1990er Jahren fungiert der Rechtspopulismus in Europa, nicht zuletzt im deutschsprachigen Raum, als spätkapitalistische Krisenerzählung mit dem Ziel der chauvinistischen Abschottung vor wachsendem globalen Konkurrenzdruck und vor von geo- oder klimapolitischen Verheerungen ausgelösten Migrationsbewegungen. Der Kapitalismus selbst bleibt als Grundlage des politischen Geschehens dabei gänzlich unhinterfragt. Womit der Rechtspopulismus lockt, das sind, um mit dem deutschen KZ-Gedenkstättenleiter Jens-Christian Wagner zu sprechen, die „Verheißungen der Ungleichheit“.

2. Vom bürgerlichen Establishment bis zur Linken herrscht hierzulande Einigkeit, dass der Populismus nicht politikfähig ist. Er manipuliere, simplifiziere, emotionalisiere und operiere auf Basis eines für sich höchst problematischen Konzepts, jenem des „Volks“. Doch sind diese Vorwürfe selbst politisch fragwürdig: Jener der Manipulation missachtet die sozialen und politischen Subjekte als vermeintlich rein passive Manövriermasse; jener der Simplifizierung redet den Technokrat:innen des Kapitalismus das Wort, die aus dem Verweis auf dessen komplexes Eigenleben das paradoxe Gebot ableiten, gegen die eigenen Interessen zu handeln, um sie langfristig zu wahren; der Vorwurf der Emotionalisierung propagiert eine Abkoppelung des Politischen von anderen lebensweltlichen Sphären – des Alltags wie der Kunst –, in denen Emotionen sehr wohl eine zentrale Rolle spielen; und die Vorbehalte gegen das Konzept „Volk“ erklären sich erst durch dessen Verankerung in der postnazistischen Gesellschaft, welche es nur chauvinistisch-ausschließend zu denken vermag.

3. Giorgio Agamben kann dem Konzept des „Volks“ dagegen durchaus einen positiven politischen Wert abgewinnen. Für ihn ist es gekennzeichnet durch ein Paradox: Einerseits suggeriert es die Existenz einer integrativen und homogenen politischen Gesamtheit. Andererseits markiert es aber auch einen „Rest“, der außen vor bleibt und nur durch die Negation der Gesamtheit integriert werden kann.[1] Als etwas Anzustrebendes bleibt „das Volk“ damit per definitionem unrealisiert. Weit entfernt von Vorstellungen einer ethnischen oder kulturellen „Reinheit“, wie sie der europäische Rechtspopulismus erträumt, kann das auf diese Weise negativ dialektisch gedachte Konzept „Volk“ zu einem Motor emanzipatorischer Politik werden. Die für ihren Populismus von europäischen Kommentator:innen unterschiedlichster politischer Richtungen häufig geschmähte, frühere Präsidentin Argentiniens, Cristina Fernández de Kirchner, brachte das auf die griffige und allgemein verständliche Formel: „La patria es el otro“ –„das Vaterland (oder auch: die Heimat) ist der Andere“.

4. In Lateinamerika markiert el pueblo nicht das Verhältnis zwischen einem scheinbar naturwüchsigen Innen und einem nicht dazugehörenden Außen, sondern primär jenes zwischen einem Oben und einem Unten, zwischen dominanten und subalternen Gruppen, welche aus einem unvollendeten Dekolonisierungsprozess hergeleitet wird. Als Gegner:innen werden nicht die ethnisch definierten Anderen, sondern die postkolonialen imperialistischen Akteur:innen und ihre lokalen Statthalter:innen, „die Oligarchie“ identifiziert. Dieser im Kern antikoloniale Populismus hat, trotz seiner Eigendefinition als „national und popular“, daher immer auch eine starke internationalistische Komponente. Gerade in der Hochblüte progressiv-populistischer Regierungen in Lateinamerika am Anfang des 21. Jahrhunderts – Hugo Chávez in Venezuela, Evo Morales in Bolivien, Rafael Correa in Ecuador, die Kirchner-Regierungen in Argentinien oder der PT in Brasilien – wurden wesentliche Projekte für eine politische Integration des Kontinents vorangetrieben: von der Schaffung der Bolivarischen Allianz für Amerika (ALBA) bis zur Stärkung des Wirtschaftsbündnisses Mercosur. Adressatin einer solchen Politik war, wie es der argentinische Historiker Jorge Abelardo Ramos in einem seiner Standardwerke ausdrückte[2], immer auch die „lateinamerikanische Nation“ als ganze.

5. Der Philosoph Ernesto Laclau gilt als der Theoretiker des Populismus.[3] Was diesen für ihn definiert, ist nicht ein spezifischer politischer Inhalt – links oder rechts, progressiv oder reaktionär –, sondern seine besondere diskursive Form. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass sie die soziologisch definierbare Differenz zwischen unterschiedlichen politischen Akteur:innen unter dem Vorzeichen eines als gemeinsam empfundenen Anliegens in eine Äquivalenz umschlagen lässt: Die Verschiedenen werden zu Gleichen innerhalb eines gemeinsamen politischen Kampfs. Die Subjekte politischen Handelns sind für Laclau – in Anlehnung an das Hegemonie-Konzept Antonio Gramscis – daher weder die gesellschaftlichen Individuen, noch soziologisch prädeterminierte gesellschaftliche Gruppen – etwa die Arbeiterklasse. Ein politisches Subjekt formt sich vielmehr erst im Zuge der populistischen Operation. Dafür notwendiger, aber für das Gelingen keineswegs hinderlicher Effekt ist, dass diese Äquivalenz inhaltlich vage, mit Laclau gesprochen: ein „leerer Signifikant“[4] bleiben muss. Populismus liegt damit dem Wesen von Politik per se zu Grunde. Sinnvoll gefragt kann immer nur werden, zu welchem Grad eine bestimmte politische Handlung populistisch ist, nie ob sie es ist.

6. In der historischen Praxis war der lateinamerikanische (Links-)Populismus seit der ersten Welle in den 1930er bis 1950er Jahren – Lázaro Cárdenas in Mexiko, Juan Domingo Perón in Argentinien, Getúlio Vargas in Brasilien, der MNR in Bolivien oder Alfonso López Pumarejo in Kolumbien – eine Allianz zwischen sozialen Basisbewegungen der subalternen Schichten und einer politischen Elite, zugespitzt in einer charismatischen Führerfigur. Während die Elite der subalternen Bewegung Repräsentanz in den politischen Institutionen verschafft, fungiert umgekehrt die Bewegung als Basis, welche die politische Elite erst zu einer solchen macht. Das Verhältnis ist ein symbiotisches: Es beruht nicht notwendig auf ideologischen Gemeinsamkeiten oder einer Übereinstimmung von Interessen – diese können seitens der politischen Elite auch rein machtpolitischer Natur sein –, die Möglichkeit der Befriedigung der eigenen Interessen ist jedoch immer von der gleichzeitigen Befriedigung jener der jeweils anderen Seite abhängig. Die charismatische Führerfigur ist in dieser Konstellation nicht nur politischer Repräsentant. Angesichts der traditionellen Schwäche der politischen Parteien und Institutionen in Lateinamerika wirkt er zugleich als Katalysator, der das Umschlagen soziologischer Differenzen in politische Äquivalenz, somit die Formierung eines politischen Subjekts, beschleunigt und vertieft. Der (Links-)Populismus kam daher stets ohne herkömmliche Parteien aus. Er gründete vielmehr seine eigene lose Bewegung, während traditionelle politische Organisationen – wie etwa die kommunistische und anarchistische Linke in Argentinien durch den Peronismus – entweder kooptiert oder bekämpft wurden.

7. Der lateinamerikanische (Links-)Populismus ist nicht antikapitalistisch. Er akzeptiert den Kapitalismus vielmehr pragmatisch als jene ökonomische Basis, von der eine Transformation der Gesellschaft in der Gegenwart auszugehen hat. Zugleich weist er ihn aber in die Schranken, indem er das Primat des Politischen gegenüber dem Ökonomischen in Form von universellen sozialen Rechten postuliert. Auch in dieser Hinsicht unterscheidet er sich wesentlich von den europäischen Rechtspopulismen, die grundlegende ökonomische Fragen, so sie sie überhaupt ansprechen, in der Regel nur entsprechend dem herrschenden neoliberalen Paradigma beantworten. Der historische (Links-)Populismus in Lateinamerika drängte dagegen stets auf den Abbau postkolonialer Abhängigkeiten und die nachholende Schaffung eines nationalen politischen Gemeinwesens von Gleichen. Er trägt die Anliegen der subalternen Schichten so bis tief in die Mittelschicht und die sogenannte „nationale“ Bourgeoisie hinein.

8. Kann der lateinamerikanische (Links-)Populismus als Vorbild für politische Transformation in Europa fungieren? Zunächst fällt hierzulande der antikoloniale Kontext weg. Jede positive Bezugnahme auf eine nationale Gemeinschaft oder „das Volk“ muss in Europa daher berücksichtigen, dass sie von einer Position der Dominanz aus artikuliert wird. Daneben ist das Bedürfnis, den Kapitalismus „in seine Schranken zu verweisen“, jedoch auch in Europa in vielen bislang relativ isoliert voneinander operierenden Bewegungen anzutreffen: in der Klimaschutzbewegung ebenso wie in Solidaritätsbewegungen mit Migrant:innen und Geflüchteten; in Kämpfen gegen die zunehmende Prekarisierung von Arbeitsverhältnissen ebenso wie in jenen zum Schutz der Gesundheit vor ökonomischen Interessen wie sie in der Initiative Zero Covid zum Ausdruck kommt. Aus Angst davor, die eigene politische Identität zu verwässern oder gar aufzugeben, kommt es jedoch zu keiner Artikulation der partikularen Forderungen dieser Bewegungen unter einem gemeinsamen politischen Vorzeichen.

9. Vom lateinamerikanischen (Links-)Populismus lässt sich lernen, dass, auch wenn das gemeinsame Vorzeichen vage bleibt, es dadurch nicht an politischer Wirkmächtigkeit verliert. Das Gegenteil ist der Fall: Fragt man Anhänger:innen des Peronismus in Argentinien, was ihn auszeichne, erhält man häufig zur Antwort, dies ließe sich nicht erklären, man müsse es „fühlen“. Gerade in der emotiv mobilisierenden Undeterminiertheit des Anliegens manifestiert sich somit seine Stärke. Hier könnte die Politik auf die Erfahrungen der Kunst, insbesondere der Popkultur zurückgreifen: Diese verstand es stets, die primären Emotionen der sozial entfremdeten Individuen – von Lust bis Einsamkeit, von Zorn bis Melancholie – anzusprechen und ihnen eine ästhetische Repräsentation zu geben, die einen rebellischen und utopischen Mehrwert hatte. Ein davon inspiriertes (links-)populistisches Projekt dürfte sich vor Emotionen nicht scheuen, sondern müsste an ihnen ansetzten, um ihnen eine politisch-ästhetische Repräsentation mit ebenso rebellischem und utopischem Charakter zu geben.


Christian Dürr arbeitet als Kurator für die KZ-Gedenkstätte Mauthausen. Er ist Autor wissenschaftlicher und journalistischer Artikel zu den Themen Erinnerung, Nationalsozialismus und argentinische Militärdiktatur. Zuletzt erschien von ihm der Roman Die Befreiung oder Marcelos Ende (Wien 2019, Bahoe Books).


[1] Vgl. Giorgio Agamben, Was ist ein Volk?, in: ders.: Mittel ohne Zweck. Noten zur Politik, Freiburg/Berlin 2001, S. 31–36.

[2] Jorge Abelardo Ramos, Historia de la nación latinoamericana. Buenos Aures 2011 (erstmals erschienen 1968).

[3] Vgl. Ernesto Laclau, On Populist Reason. London 2005.

[4] Vgl Ernesto Laclau, Why do Empty Signifiers Matter to Politics? In: Ders.: Emancipation(s). London/New York 1996, S. 36–46.