Öl auf Leinwand. Ein massives, dunkles Kreuz an einer Kette um den Hals getragen. Das Gemälde zeigt ein close-up eines nackten Oberkörpers, dessen volle Brüste durch das Christenkreuz in absurder Weise auseinandergedrückt werden, so dass die Nippel beinahe den seitlichen Bildrand durchbohren. Sie bilden die Spitzen einer horizontalen Verlängerung des Kreuzbalkens, zugleich aber auch eine kecke Fluchtlinie in den umgebenden Raum. Schwer zu sagen, ob die zinnoberroten Hämathome an den Druckstellen einen gewaltsamen Akt/Eindruck nahelegen und/oder die erotische Kraft des Körpers verstärken, der mit dem Kreuz eins wird. Als Betrachter_in ist es mir unmöglich, dieses Gemälde von Lee Lozano (No title, 1962) wahrzunehmen, ohne im Blick, zumindest im Augenwinkel oder im Rücken zugleich Alina Szapocznikows Sculpture- Lampe IX (1970) zu haben. Leuchtend orange- und rosa-farbiges Kunstharz bildet eine mindestens kopfgroße, brusthohe Blüte, deren ausladende Blätter einen zungenartigen, beleuchteten Blütenstempel umschirmen. Die Lampe ist so platziert, dass ich die „Zunge“ erst dann sehen kann, wenn hinter der Blüte zugleich das Gemälde auftaucht, so dass die Brüste auf mich zustreben, die sich zugleich einen Kampf mit dem Kreuz leisten. Mein Weg von Nancy Speros Artaud Paintings Serie (1969-1972) zu ihrem Fries Cri du Coeur (2005) führt mich unweigerlich durch dieses Szenario. Die von Danh Vo in Zusammenarbeit mit Caroline Bourgeois kuratierte Ausstellung Slip of the Tongue (Punta della Dogana, Venedig, 12. 4.–31. 12. 2015) wird mich durch diesen Text hindurch begleiten, denn ich habe sie als einen bildpolitischen Einsatz der ganz besonderen Art erlebt: ein Einsatz, der leise daherkommt, der auf Statements verzichtet und Klassifikationen unterläuft, und der den Objekten die Macht verleiht, sich miteinander zu vergnügen. Für die Besucher_innen, so möchte ich argumentieren, wird dies dann zu einer politischen Erfahrung, wenn sie sich dem Miteinander der Objekte und dem Raum aussetzen und sich darauf einlassen, dass hierbei Imaginarios entstehen, die unvertraute Platzierungen und Bewegungen abverlangen.
Wenn ein Bild als Agent der Gouvernementalität (Holert 2008, Hentschel 2007, Engel 2009) oder als Transportmittel von Macht und Begehren (Probyn 1995, Engel 2009) soziale Produktivität entfaltet, so ist es in der Regel nicht allein. Es wird von seiner Umwelt, seinem Kontext gespeist und es tritt im Schwarm auf, gemeinsam mit weiteren Bildern, mit Fantasien, Diskursen, Objekten und Körpern; deren Zusammenspiel bildet etwas aus, was sich als Imaginario bezeichnen ließe: eine Vorstellungswelt. Bildpolitiken unter der Überschrift „Imaginarios“ zu denken, lautet der Vorschlag dieser Bildpunkt-Ausgabe, den ich aufgreifen möchte. Der Begriff gilt als unübersetzbar (Huffschmidt/Wildner 2013). Doch verweist das spanische Suffix -iario auf Relationalität oder räumliche Konstellationen. Dies legt es nahe, dass sich die Vorstellungswelten, nicht einfach im Kopf ausbilden, sondern den Körper involvieren. Somit haben Imaginarios eine sensorische, eine affektive und eine räumliche Dimension; sie machen Raum erfahrbar. Diese Kombination von Vorstellung, Affekt und Raumkonstellation erinnert mich an Teresa de Lauretis geteilte Phantasieszenarien (1996), aber auch an Elspeth Probyns Vorschlag, dass sich Begehren in Bildern bewegt (1995). Dadurch, dass Bilder Begehren (und Macht) transportieren und Körper sich in Phantasieszenarien bewegen, entstehen Räume – spe- zifische Räume, die nicht einfach virtuell, real oder imaginär sind, sondern all dies zugleich. Der Begriff der Imaginarios wäre demnach genauer so zu fassen, dass er auf eine paradoxe Spannung von Vorstellung und Objekt verweist: materialisierte Vorstellungsräume oder Bildwelten.
Ist Begehren im Spiel, so öffnen sich die Imaginarios für Potentialität und Veränderung. Deren politische Dimension kann sich genau dann entfalten, wenn das Begehren nicht in intimen Beziehungen eingeschlossen bleibt, sondern sich der Bilder als Transportmittel bedient, um unerwartete Wege zu erproben. Elmgreen and Dragsets Powerless Structures (1997-2014) transportieren ein solches Begehren auf einem Sprungbrett direkt durch die Scheibe eines Panoramafensters aus dem Museum nach draußen. Zwar kann Begehren auch zur Stabilisierung von Herrschaftsordnungen beitragen und konservative Funktion erfüllen (so etwa, wenn um Teilhabe an einer Institution gerungen wird, deren Struktur auf Hierarchien und Ausschlüssen beruht), doch soll hier die Aufmerksamkeit auf desire’s serendipity verschoben werden: Serendipity, der glückliche Zufall oder unerwartete Glücksfall, verweist auf die Offenheit des Begehrens für Überraschungen und die Andersheit der_des Anderen, die gerade nicht als Bedrohung erfahren wird (Engel et al. 2015). Dies kann durchaus auch in der Begegnung mit dem Tod erfolgen, wie Peter Hujars Fotografien der Skelette in der Palermo Catacombs Serie (1963) oder Zoe Leonards Fotos ausgestopfter Tiere (1990-97) zeigen – zwei Serien, die in Slip of the Tongue zueinander finden, auch wenn sie in verschiedenen Räumen residieren. In das serendipe Verständnis von Begehren ist eine Passivität eingeschrieben: Aus aktiver Suche, Streben oder Verlangen eines Subjekts, für das Selbstbehauptung mit der Bereitschaft zu Manipulation, Zwang und Gewalt einhergeht, wird Hingabe an die Objekte und die Bereitschaft sich affizieren zu lassen, auf Kontrolle zu verzichten, vom Wege abzukommen.
Schon der Titel der Ausstellung, als Versprecher übersetzt, inszeniert einen solchen Kontrollverlust und trägt auf dezente Weise den Freudschen Versprecher mit sich, der bekanntlich einen sexuellen Subtext enthüllt. Die Ausstellung nimmt sich heraus, dem Sexuellen Raum zu verleihen, jedoch ohne Wahrheiten zu verkünden, Geheimnisse zu lüften oder Skandale zu provozieren. Während es schier unzählige Verweise auf erotische und verletzliche Körper, auf die taktilen Qualitäten von Materialen und Oberflächen, auf Fetische und die Lüste des Schauens, auf sexuelle Assoziationen von Formen und Farben gibt, verzichtet die Ausstellung fast vollständig auf vereindeutigende Geschlechterzuweisungen. Wenn solche doch einmal nahegelegt sind, wie in Jos de Gruyter and Harald Thys Skulptur Hildegard (2013) oder Draped Male Nude (I) (Peter Hujar 1979), werden mögliche Festschreibungen durch die Kontextualisierung untergraben – im letzteren Falle zum Beispiel dadurch, dass Maskulinität in unmittelbare Nachbarschaft mit David Hammons durchlöcherter Plastikfolie (Untitled 2007) gerückt wird, die eher so etwas wie die Unbrauchbarkeit von Schutzmaßnahmen und Schönheit in der Verletzlichkeit assoziiert. Zumeist sind es also die Objekte in ihrer Objekthaftigkeit und unterschiedlichen Materialitäten sowie Räumlichkeit und Licht, durch die ich in Begegnungen gelockt wer- de, die Sexuelles konnotieren, ohne Sexualität zu bedeuten. Imaginarios entstehen, weil ich selbst als Objekt_Körper_Subjekt eingeladen werde, Teil von Konstellationen zu werden, in denen bereits eine vielstimmige Konversation der Dinge im Gange ist, die meiner nicht bedarf, aber meinem Vorstellungsvermögen doch Spielraum verschafft.
Slip of the Tongue bestätigt nicht nur die agency-Funktion der Bilder (Brosch 2004), sondern trägt auch zu einer Entmachtung des souveränen Subjekts und einer Erweiterung des Kampffeldes bei. Bislang habe ich den „lustvollen Machtkampf“ auf den Rezeptionsprozess bezogen: etwas, das sich zwischen den gegnerischen Positionen Bild und Text entfaltet, wenn im Sprechen oder Schreiben über eine künstlerische Arbeit selbige beginnt, sich zu widersetzen, mich zu verführen oder mit absurden Details auf unerwartete Fährten zu locken. Mittlerweile interessiert mich, inwiefern sich auch zwischen den Objekten lustvolle Machtkämpfe vollziehen. Ist auch darin ein politisches Potenzial oder eine soziale Produktivität der Bilder auszumachen? Wird diese nur relevant, wenn ich als Rezipient_in dazwischen gerate? Und ist es ein Unterschied, ob ich mich still und rezeptiv im Hintergrund halte oder Einmischungen produziere? Wenn sich der lustvolle Machtkampf auch zwischen den Objekten abspielt, dann ist das Medium, in dem der Kampf ausgetragen wird, nicht die Sprache, sondern der Raum. Genau dies ist es, was die Imaginarios nahelegen: Sie spannen das Feld kultureller Politiken zwischen Bild/Objekt, Sprache/Diskurs und Raum auf.
In meinem Bemühen, die soziale Produktivität der Bilder aufzuzeigen, habe ich mich bislang einer ekphratischen Lektürepraxis bedient, die einerseits sehr eng an der genauen Beschreibung eines (audio-)visuellen Objekts orientiert ist, sich andererseits jedoch herausnimmt, an die Arbeit politische Diskurse und theoretische Ideen heranzutragen, die nicht unmittelbar naheliegen (Engel 2009: 204ff.). Ziel ist es, einen bevorzugt konflikthaften oder spannungsreichen Dialog zu initiieren, der insbesondere diejenigen Momente, die bestehende Macht- und Herrschaftskonstellationen bestätigen, ausbremst oder unterläuft. Die Idee besteht darin, die Bilder eher als Agenten denn als Instrumente der Governementalität anzusehen (ebd.: 222) und die Aufmerksamkeit auf die Ränder und Uneinheitlichkeiten hegemonialer Diskurse zu verschieben. Hierbei entfaltet sich idealerweise eine Kraft kultureller Artefakte, performativ oder durch Strategien der VerUneindeutigung oder des visuellen Aktivismus dominante Ordnungen zu hintergehen und Darstellungen des Undarstellbaren zu erfinden. Doch bleibt das politische Potenzial an die ekphratische Intervention – an die verschiebende Verdopplung oder Vervielfachung des Bildes – durch eine Kulturarbeiter_in oder aktive Rezipient_in gebunden. Kulturelle Politiken hingegen ausgehend von Imaginarios bzw. materialisierten Vorstellungswelten zu suchen, schafft Anerkennung nicht nur für die Singularität und agency der Objekte, sondern auch für deren Sozialität.
Antke Engel ist promovierte Philosophin, Queer Theoretikerin und freiberuflich in Wissenschaft und Kulturproduktion tätig. Sie leitet das Institut für Queer Theory in Berlin.
Austellungsfotos von Slip of the Tongue: http://artobserved.com/2015/06/venice-slip-of-the-tongue-curated-by-danh-vo-at-the-punta-della-dogana-through-december-31st-2015/
Renate Brosc: Die „gute“ Ekphrasis: Grenzgänge der Repräsentation. In: Dies. (Hg.): Ikono/Philo/Logie: Wechselspiele von Texten und Bildern. Berlin 2004: trafo, S. 61–78.
Antke Engel: Bilder von Sexualität und Ökonomie. Queere kulturelle Politiken im Neoliberalismus. Bielefeld 2009: Transcript Verlag.
Antke Engel / Jule Jakob Govrin / Christoph Holzhey: desire Conserves desire transgresses desire, Roundtable 2. 2. 2015
www.ici-berlin.org/de/event/652/ (Video)
www.queer-institut.de/desire-conserves-desire-transgresses/ (Pdf der Inputs)
Linda Hentschel: Haupt oder Gesicht. Visuelle Gouvernementalität seit 9/11. In: Linda Hentschel (Hg.): Bilderpolitik in Zeiten von Krieg und Terror. Medien, Macht und Geschlchterverhältnisse. Berlin 2007: b_books, S. 183–200.
Tom Holert: Regieren im Bildraum. Berlin 2008: b_books/Polypen.
Anne Huffschmid / Kathrin Wildner (Hg.): Stadtforschung aus Lateinamerika: Neue urbane Szenarien: Öffentlichkeit – Territorialität – Imaginarios. Bielefeld 2013: Transcript Verlag.
Teresa de Lauretis: Die Andere Szene. Psychoanalyse und lesbische Sexualität. Berlin 1996: Berlin Verlag. Elspeth Probyn: Outside Belongings. London / New York 1996: Routledge.