Diesseits und jenseits des Kreativitätsdispositivs

Man versuche einmal das alltägliche Krisenexperiment, sich gegen Kreativität auszusprechen. Zumindest in den Kreisen der europäischen und nordamerikanischen akademischen Mittelschichten wird verwirrtes Erstaunen eher die mildeste Reaktion sein. Der common sense lautet vielmehr, dass es „immer noch“ oder „immer schon“ zu wenig Raum für Kreativität gebe, jedenfalls für „wirkliche“ Kreativität – ob am Arbeitsplatz oder in der Schule, in der Freizeit oder der Architektur. Kreativ sein zu wollen und zu wenig Gelegenheit für Kreativität zu haben, scheinen die beiden Seiten der gleichen Medaille: ein allgegenwärtiger Wunsch und ein empfundener Mangel zugleich.

Schaut man genauer hin, stellt sich jedoch die alltägliche Klage über zu wenig Kreativität, die das Begehren danach als unumstößlich voraussetzt, als das genaue Gegenteil dessen heraus, was sie zu sein vorgibt: Sie ist gerade kein Indikator für einen Mangel an kreativen Möglichkeiten, sondern dafür, dass wir mitten in einer Gesellschaft leben, die in ihrem strukturellen Kern an immerwährender Kreativität orientiert ist – und unersättlich immer noch mehr davon fordert.

Wie konnte es zu dieser paradoxen Lage kommen? Und wie geht es weiter? Zunächst einmal: Man sollte die mittlerweile inflationäre alltägliche Verwendung des Begriffs Kreativität – den man guten Gewissens häufig nur noch mit ironischem Unterton verwenden mag – unterscheiden von der Diagnose einer grundsätzlichen Struktur der spätmodernen Gesellschaft, die an Kreativität orientiert ist, selbst wenn dieser Begriff gar nicht mehr benutzt wird. Man kann hier von der Etablierung eines Kreativitätsdispositivs sprechen. Gegen den Mythos, Kreativität sei eine anthro- pologische Voraussetzung oder das Ergebnis eines Prozesses gesellschaftlicher Befreiung kreativer Potenziale, lässt sich die gesellschaftliche Ordnung der Kreativität als ein Dispositiv im Sinne Michel Foucaults dechiffrieren: als ein machtvoller Komplex diskursiver und nicht-diskursiver Praktiken verschiedenster sozialer Felder, die die soziale Praxis und ihr Subjekt in eine bestimmte Richtung modellieren. In einem soziologisch informativen Sinne setzt sich diese soziale Orientierung am Kreativen, wie sie sich seit den 1980er Jahren in immer mehr Segmenten der westlichen Gesellschaften festgesetzt hat, aus mehreren Elementen zusammen. Das Kreativitätsdispositiv richtet seine soziale Praxis grundsätzlich an der Verfertigung und positiven Prämierung von Neuem aus. Die moderne Gesellschaft prämiert innerhalb des Spektrums von Wiederholung und Innovation, die sich in jedem menschlichen Handeln findet, von Beginn an die Innovation gegenüber der bloßen Wiederholung: in der Technik und Wissenschaft, in der Kunst und der Politik wie auf dem ökonomischen Markt. Das Kreativitätsdispositiv geht hier jedoch noch einen Schritt weiter: Es löst das Modell des Neuartigen weitgehend vom Maßstab des Fortschritts und strebt nach dem Neuen um des Neuen willen. Dies kann es, indem es sein „Regime des Neuen“ an die soziale Form der Ästhetisierung koppelt: Das Neue ist nun deshalb interessant und erstrebenswert, da es ästhetisch, das heißt sinnlich und affektiv um seiner selbst willen reizvoll ist.

Letztlich gewinnt damit ein soziales Feld Modellcharakter, das die Gesellschaftstheorie bislang eher als randständigen Bereich abgetan hat: die Kunst. Die Kunst mit ihrer Subjektivierungsform des Künstlers / der Künstlerin als Schöpfer_in von originellen Werken und mit ihrer Form der Beobachtung, die wertschätzt, was die Regeln bricht und Überraschungen erzeugt, erweist sich als eine Art Blaupause des spätmodernen Kreativitätsdispositivs in vielen Bereichen: nicht nur für die creative industries, sondern für einen ästhetischen Kapitalismus insgesamt, der sich von technischen Produkten auf sinnliche Erlebnisse umstellt, für die Medien, die immer schon eine „Präferenz für das Neue“ (Luhmann), aber mittlerweile primär für den wechselnden Reiz des Neuen entwickelt haben, für die Stadtentwicklung, die auf creative cities und eine Kulturalisierung des Urbanen setzt – und für das alltägliche kreative Selbst, das die Psychologie als unbedingt förderungswürdige Normalform entdeckt hat.

Eine Gesellschaft, die auf die Verfertigung und Rezeption von ästhetisch Neuem setzt, muss ihre sozialen Arenen um die zentrale Relation von Produzent_innen und Publikum herumbauen. Im Kreativitätsdispositiv stehen auf der einen Seite die kreativen Produzent_innen – vom Designer bis zur Bloggerin, von der Filmproduktion bis zum Stadtmanagement –, auf der anderen Seite ein Publikum, das die neuen Reize beobachtet und mehr oder minder von ihnen angezogen wird (wobei die Rollen zwischen beiden sich häufig tauschen lassen: Irgendwo ist jede/r Produzent_ in und irgendwo jede/r Publikum). Das zentrale Koordinationsproblem innerhalb des Kreativitätsdispositivs ist dann die Knappheit der Aufmerksamkeit des Publikums: Auf welches reizvoll Neues richtet es sich? Welches bleibt dagegen erfolglos? Welches wandert gar ins langfristige kulturelle Gedächtnis?

Das Ideal der Kreativität war einmal ein gegenkulturelles: Das Ideal des Schöpferischen und der Selbstentfaltung wurde gegen Ende des 18. Jahrhunderts in Künstler_innenzirkeln entwickelt und richtete sich gegen die Entfremdung der sich industrialisierenden Gesellschaft. Teilweise zehrt die kulturelle Attraktivität der Kreativität auch heute noch von diesem post-romantischen Ideal. Wenn in der spätmodernen Kreativitätsgesellschaft das Ideal der Kreation freilich zu einer gesellschaftlichen Erwartungsstruktur geworden ist, sieht sich der Mythos entzaubert. Kann es eine andere Kreativität jenseits der Aufmerksamkeitsökonomie geben? Und warum überhaupt Kreativität, also das Lob der Innovation gegenüber der Routine? Man kann dagegenhalten: Die Befriedigung einer ästhetischen Praxis findet sich möglicherweise eher in den Wiederholungen des Immergleichen, so wie sie Francois Julien in der östlichen „Ästhetik des Faden“ ausmacht. Und der heroischen Kreativität des Schöpfers vor seinem Publikum kann man profane kreative Akte entgegenstellen, die nicht vor einem Publikum stattfinden, sondern von den sozialen Teilnehmer_ innen für sich selbst verfertigt werden, eine „vernacular creativity“ (T. Edinsor). Das Kreativitätsdispositiv, das auf den ersten Blick wie ein Gipfelpunkt der Moderne erscheinen mag, könnte sich dann vielmehr als ein Wendepunkt in Richtung einer Zukunft herausstellen, die nicht mehr blind auf ästhetische Innovationen um ihrer selbst willen setzt.


Andreas Reckwitz ist Professor für Kultursoziologie an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/ Oder und lebt in Berlin.