„… die Lähmungen des herrschenden ‚There Is No Alternative‘ zu überwinden“

Krise & Konflikt im Gespräch mit Stefanie Hürtgen und Jean Peters (Peng! Kollektiv)

Bildpunkt: Die Krise ist ein Moment, hat Pierre Bourdieu einmal geschrieben, in dem „die alltägliche Erfahrung der Zeit als bloße Weiterführung der Vergangenheit“ ausgehebelt wird. Das heißt: plötzlich scheint alles möglich, aber auch nichts mehr sicher. Was sind Ihrer Meinung nach die zentralen Charakteristika der gegenwärtigen Krisenszenarien?

S.H.: Die Krise als auch befreiende Infragestellung des Tradierten, als qualitative Ermöglichung scheint heute abgelöst von sich verallgemeinernder Entsicherung als neuer Normalität. Sozial herrscht der permanente Ausnahmezustand, für die ohne oder mit prekären Jobs, aber auch für die noch „normal“ Beschäftigten, die immer höheren Vorgaben bei immer weniger Personal hinterherhetzen und nicht wissen, ob ihr Arbeitsplatz die nächste Umstrukturierung überlebt: Kann ich die Miete künftig noch zahlen? Wie lange sind Post, Bus, Kindergarten, Schwimmbad noch im Ort? Was wird mit meiner Rente? Und die Pflege der Eltern?

J.P.: Ich sehe momentan vier zentrale Charakteristika: Erstens die Überforderung der Linken, neue Strategien zu entwickeln, die existierende Analysen in Politiken umsetzen, parallel dazu zweitens die Herrschaft der Marktradikalen und Neonationalist* innen über die Heilbringungs-Narrative, drittens die Irreversibilität der massiven Zerstörung der Natur, was die Hoffnung auf ein „wir machen es besser als unsere Eltern“ auf ewig begleiten wird, und schließlich die Gefahr einer Massenresignation, was die Orientierung der Gesellschaften hin zu starken Führer*innen und Protektionismus wahrscheinlicher macht.

Bildpunkt: Seit der Finanz- und Wirtschaftskrise wächst die soziale Ungleichheit in Europa, Armut und Ausgrenzung nehmen zu. Stefanie Hürtgen, Sie schreiben in einem Aufsatz zur „Analyse fragmentierter Wachstumsgesellschaften“, dass das in der akademischen Debatte kaum wahrgenommen werde. Wie kann das übersehen werden? Und was ist fragmentiert an den Gesellschaften, die das Wachstum zum Leitprinzip erklärt haben?

S.H.: Die lokal bis global verschärfte kapitalistische Konkurrenz trifft zunehmend alle Formen des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Der Mainstream ökonomischer Theorie und Politik verbrämt diese Dynamik positiv als „Wettbewerb“, der zu Innovation und Entwicklung führe. Faktisch aber sind es brutale Ausscheidungskämpfe. Wer keine marktkonforme „Leistung“ bringt wird mit kläglichem „Existenzminimum“ und gesellschaftlichem Ausschluss bestraft. Öffentliche Umweltund Sozialpolitiken werden als Investitionsfelder kostengünstig flexibilisiert.

Bildpunkt: Die Wirtschaftskrise ist längt auch eine soziale und politische Krise. Jean Peters, sowohl das Themenspektrum als auch die eingesetzten Mittel des Peng! Kollektivs sind höchst unterschiedlich – von der banal-effektiven Tortung von Beatrix von Storch bis hin zum fast bürgerlich anklingenden „Werde Fluchthelfer_in“-Video im Stil einer Autowerbung. Wann wird euer Kollektiv eigentlich aktiv und mit welchem Anspruch?

J.P.: Um aktiv zu werden gibt es bei uns drei Hauptgründe: Wir sind wütend, wir haben eine Gelegenheit, oder wir haben den Eindruck, dass bei einem wichtigen politischen Thema keine mobilisierenden Narrative existieren. Letzteres war z.B. bei der Waffenindustrie der Fall, deren Bekämpfung seit der APO nicht mehr hip ist. Oder bei den Geheimdiensten, bei denen fast jede Kampagne mehr Angst schürt als Mobilisierung erzeugt. Darüber hinaus gehen wir „intersektoral“ an die Themen – wir denken Umwelt nicht ohne Gender, Gender nicht ohne Kapitalismus, nicht ohne Migration usw. Die Trennung der Sektoren ist eine absurde Idee.

Bildpunkt: Wie und auf welche Weise können Kunst und Wissenschaft ihre je eigenen Mittel anbringen, um in die Krise zu intervenieren?

S.H.: Wissenschaftler*innen produzieren und streiten sich um Theorien und Begriffe, damit um Denk- und Handlungsperspektiven. Künstler*innen geht es ums Wahrnehmen von (Un-)Möglichem. Also sind Wissenschaft und Kunst immanent politisch. Kritik und Imagination können helfen, die erdrückende Unübersichtlichkeit der Problemlagen und die Lähmungen des herrschenden „There Is No Alternative“ zu überwinden. Es geht darum, wechselseitige Verständigungen anzuregen, sich mit den Alltagserfahrungen auseinanderzusetzen – und sich nicht selbstbezüglich über das „banale“ Leben der Vielen und deren „bon sens“ (Gramsci) zu stellen.

J.P.: Da bin ich dabei! Das sind Orte, an denen idealer Weise präzise analysiert und recherchiert wird, an denen Utopien gedacht und ausprobiert werden können. Das Handwerk der komplexen Abstraktion, etwa der Visualisierung von Idealen und Beziehungen, der Versinnlichung tödlicher und doch zuckersüßer Ideologien – das brauchen die sozialen Bewegungen. Ich sag‘ mal so: wenn wir im Theater die Liebe hoch und runter inszenieren, werden wir ja wohl die Problematik der Gleichstellung juristischer und natürlicher Personen in Kooperation mit Wissenschaftler*innen inszenieren können, oder? In der Kuppel des Bundestages versteht sich! Die Zeit des reinen Kommentierens ist für Kunst und Wissenschaft nun leider vorbei.

Bildpunkt: Momentan sind die ultrarechten Parteien und Bewegungen definitiv diejenigen, die von den prekären Arbeitsverhältnissen, den Abstiegsängsten und der allgemeinen Verunsicherung profitieren können: Sie sind die Krisengewinnlerinnen und Ressentiments überwiegen gegenüber dem Gedanken an Solidarität. Wo wäre anzusetzen, um das Blatt zu wenden?

J.P.: Typisch Linke – sie fragen nach einem Rezept, aber hinterher kochen sie doch ihre eigene Suppe (lacht). Naja wir müssen halt irgendwie die unheilige Allianz von Nationalismus und Marktradikalismus aufbrechen, die sich in einer Art Co-Abhängigkeit den Weg freigeschaufelt haben, die aber offiziell zerstritten sind. Ansonsten: progressive Grundeinkommensformen pushen, Vollüberwachung von Unternehmen und staatlichen Stellen (anstelle der Bürger*innen), Bewegungsfreiheit für alle, juristische Neuregelung des Eigentumsbegriffs hin zu „dir gehört, was du alleine gemeinwohltauglich pflegen kannst“, Abschaffung juristischer Personen und vielleicht auch mal die Einführung der Sitze für Nichtwähler*innen im Parlament – prozentual natürlich.

S.H.: Unter anderem braucht es eine kritische Selbstbefragung des linkskulturellen/-akademischen Milieus. Es hat sich teilweise – seinerseits unsolidarisch – zum Komplizen gemacht in der Verachtung von Forderungen nach sozialer Sicherheit als Anliegen der Ewiggestrigen, der Uninteressanten und Ungebildeten. Wer in und hip sein will, zelebriert sich und seine individuell- kreativen Leidenschaften. Statt nach sozialen Zusammenhängen wird nach dem (Markt-)Wert des Einzelnen gefragt. Dieser „linke“ neoliberale Autismus verdrängt soziale Verwundbarkeit, die eigene wie die der Vielen, auf die leichtfertig distinktiv mit dem Finger gezeigt wird.


Stefnanie Hürtgen ist kritische Zeitgenossin und arbeitet als Assistenzprofessorin an der Uni Salzburg, Bereich Wirtschaftsgeographie, Schwerpunkt Arbeit.

Jean Peters lebt in Katmandu und Übach-Palenberg, kocht gern vietnamesischen Spaghettiauflauf und profiliert sich zur Zeit als Hobbykleingärtner. Er arbeitet bei Peng und schrieb das Critical Campaigning Manifesto.

Das Gespräch wurde im Mai/Juni 2018 von Jens Kastner und Paula Pfoser per E-Mail geführt.