Der alternative Blick auf die Realität

Anmerkungen zur Rolle des Journalismus in den gegenwärtigen zivilgesellschaftlichen Kämpfen in Guatemala

I. Auf der Ebene des Sozialen gibt es mindestens zwei große Kommunikationsformen: eine vertikale, konzentriert in der Hand von Wenigen und charakterisiert durch den Monolog, der den Sender*innen immer den Vorzug vor den Empfänger*innen gibt, denen sich wenige oder gar keine Möglichkeiten zum Dialog und zur kritischen Reaktion bietet. Es ist die Kommunikationsform, die korrupte Politiker*innen, antidemokratische Unternehmer*innen, hegemoniale Medienunternehmen, Wortführer der Großmächte gegenüber armen Ländern usw. ausüben. Auf der anderen Seite gibt es die partizipative und integrative Kommunikation, die Differenzen anerkennt und den Dialog, die Herstellung von Konsensen und die Transformationsprozesse im Sinne des Gemeingutes bevorzugt. Es ist eine horizontale Kommunikation, in der die Sender*innen und die Empfänger*innen eine Beziehung der Gegenseitigkeit unterhalten.

Mit den Friedensverträgen von 1996, nach 36 Jahren Repression durch das Militär und popularem Widerstand, versprach Guatemala auf dem Weg von der Gewalt zur Eintracht zu sein, vom de facto Staat zum de jure Staat – zum Rechtsstaat –, von einem ausschließenden zu einem partizipativen Projekt, vom ökonomischen Wachstum zur nachhaltigen Entwicklung, vom Vergessen des Genozids zur Erinnerung und zur Entschädigung, und im Hinblick auf die Informationspolitiken von der medialen Manipulation zu einer Übung von Kritik und sozialer Kommunikation.

In wenigen Jahren hat die konservative Bourgeoisie, Hand in Hand mit den USA, dem Konsens den Rücken gekehrt, den alten kriminellen Charakter des Militärs wiederbelebt und ist mit einem fürchterlichen Ausmaß an Korruption an die Staatsmacht zurückgekehrt. Aber auch die Linke, namentlich die Bevölkerungsgruppen der Indígenas und die ausgebeuteten Mestiz@s, waren nicht auf der Höhe der Herausforderungen.

Der Drogenhandel und die lokalen Mafias haben die Institutionen kooptiert, das Land wurde den großen Bergbauunternehmen ausgeliefert, was Armut auslöste und politische Repression, Verstöße gegen die Verfassungsrechte und gegen die Gewohnheitsrechte der Bevölkerungsgruppen der Indígenas sowie Umweltzerstörungen ökozidalen Ausmaßes zur Folge hatte, wie etwa beim Fluss La Pasión [1] und der Franja Transversal del Norte, einer ausgedehnten Regenwaldzone, die heute dem Anbau von Ölpalmen gewidmet ist.

II.
Im Mai 2015 stellte die Zivilgesellschaft fest, dass sie wieder einmal Objekt von Betrug und Ausplünderung im großen Stil geworden war und sie ging auf die Straße, um für ihre Rechte zu kämpfen, die Korruption zu bekämpfen und gegen die Straflosigkeit der konservativen Politiker und Unternehmer vorzugehen, die die Erben der alten autoritären Kultur sind. Der Prozess wurde von großen Medien mit demokratischer Ausrichtung (La Hora, elPeriódico), von virtuellen Plattformen der mit privaten Universitäten oder internationalen Stiftungen in Verbindung stehenden Mittelschichten (Plaza Pública, Nómada), von Radiostationen der befreiungstheologischen katholischen Kirche und Nichtregierungsorganisationen, Kolumnist*innen und unabhängigen Auslandsberichterstatter*innen, von alternativen Medien und sozialen Netzwerken aus dem ganzen Land begleitet.

Obwohl formale Veränderungen erreicht wurden und der Rücktritt der Regierung des früheren Militärs der Aufstandsbekämpfung, Otto Pérez Molina, erzwungen wurde, wurden die Früchte des Protests von 2015 von den traditionellen Sektoren der Macht kapitalisiert und ihre Medien (Prensa Libre, canales 3, 5, 7 y 11 de televisión abierta, Emisoras Unidas, Vea Canal, Canal Antigua etc.) insistierten darauf, dass die Korruption das Grundproblem sei und nicht das Symptom einer viel schlimmeren und komplexeren Krankheit. Die Zivilgesellschaft machte weiter und setzte neue Prozesse der öffentlichen Debatte, der Organisierung und der kritischen sozialen Kommunikation in Gang.

Teilweise Dank der alternativen und unabhängigen sozialen Medien und trotz des ideologischen Aufstiegs der fanatischen evangelikalen Kirchen, versteht der Großteil der Bevölkerung heute, dass die Gewalt und die Rückständigkeit Produkte der Armut und der Unzufriedenheit mit der Grundversorgung in Bezug auf Gesundheit, Wohnen und Bildung sind; der furchtbaren Ungleichheit im Hinblick auf das bebaubare Land und des Fehlens von Regulierungen für den Erhalt des natürlichen und kulturellen Erbes des Landes und des Weiterbestehens einer verletzenden machistischen Kultur, die sich in Femiziden und innerfamilärer Gewalt tradiert.

Jedenfalls reichen die Wurzeln dieses „kollektiven Bewusstseins“ weit vor die Proteste des Jahres 2015 und des Marsches für das Leben 2016 [2] zurück. Sie liegen in der Arbeit von guatemaltekischen und internationalen Journalist*innen und Filmemacher* innen, eine unaufhörliche Entwicklung.

III.
Der alternative Journalismus ist vor allem ein Angriff auf das dominante Modell und die Opposition zu ihm, er besteht in der Organisation der Rezipient*innen, damit sie sich zu Sender*innen ihrer eigenen Wirklichkeiten konstituieren, kooperative oder assoziative Eigentumsmodelle und Modelle der technologischen Medienkontrolle entwickeln sowie pluralistische Veränderungen im Hinblick auf die Inhalte der Botschaften und die Rolle der Rezipient*innen ermöglichen.

Zu dieser Strömung gehören das feministische Monatsmagazin La Cuerda, das Netz der Indígena-Korrespondent*innen Tz’ikin, die Federación de Escuelas Radiofónicas de Guatemala (Föderation der Rundfunkschulen Guatemalas), die urbane Plattform Barrancópolis (möglicherweise das gewagteste und kritischste virtuelle Medium in ganz Mittelamerika), RIO/ Medios Independientes (ein Zusammenhang, der mit HIJOS, der Organisation der Familien von Verschwundenen, in Verbindung steht) und die Agencia Prensa Comunitaria Km. 169 (Kommunitäre Presseagentur Km. 169), die im Kontext der Forderungen der Gemeinden nach der Krise von 2011 entstanden war.

RIO / Medios Independientes und Prensa Comunitaria sind hybride Medienprojekte, die Werkzeuge aus den Sozialwissenschaften, dem Journalismus, der Kunst, dem Kino, den Feminismen und dem populären Wissen nutzen, um demokratische Narrative zu den politischen, sozialen und ökonomischen Ereignissen im Land zu entwickeln. Es handelt sich dabei um kollaborative Modelle mit Tendenz zur Selbstverwaltung, auch wenn fast alle Unterstützung aus internationalen Kooperationen und ähnlich ausgerichteten Netzwerken aus Europa erhalten. Diese Projekte sind eine anerkennenswerte und notwendige Kraft, um die Realität ausgehend von den Subjekten selbst erzählen zu können, von denen die Worte und die Bilder stammen.

IV.
Die Diskussion um das gültige Modell für die Medien und die Legitimität ihrer Aussagen steht vor einer doppelten Herausforderung: ihre Demokratisierung in Begriffen des Eigentums zu denken und die Repräsentation der abgebildeten Wirklichkeiten zu reflektieren. Den Journalismus zu demokratisieren bedeutet, die Gesellschaft zu demokratisieren.

Sergio Valdés Pedroni ist Filmemacher, Dozent, Kolumnist und Fotograf. Lebt und arbeitet in Guatemala.

Aus dem Spanischen übersetzt von Jens Kastner.

 

[1] Im Juni 2015 wurde der plötzliche Tod der Fauna dieses Flusses herbeigeführt, der für das ökologisches Gleichgewicht der Region und des Landes so wichtig ist, vgl. https://cmiguate.org/la-pasion-desastre-ecologico-y-social

[2] Der Marsch wurde von der Sozialen Plattform (Plataforma Social) organisiert, die mehr als 100 gewerkschaftliche, politische und Medien-Organisationen vereinte, was einen qualitativen Sprung bedeutete und eine Kraft ausstrahlte, die der Bevölkerung ihre Erfolge von 2015 wieder vor Augen hielt.