„Dawn of the Debt“, oder: Was war der Sozialstaat?

Lern Geschichte! Schul den Kanzler!

Und wenn mich einer fragt, wie denn das mit den Schulden ist, dann sag’ ich ihm das, was ich immer wieder sage: dass mir ein paar Milliarden mehr Schulden weniger schlaflose Nächte bereiten als ein paar Hunderttausend Arbeitslose mehr bereiten würden.“ Dieser Satz Bruno Kreiskys aus dem Wahlkampf 1979 ist ein kanonisches Bonmot des sozial­demokratischen Langzeitbundeskanzlers, zu dessen Geschichts­prägung der heutige österreichische Kanzler einen gleich­rangigen neoliberalautoritären Gegenentwurf formulieren will.

Kreiskys Satz handelt von Schulden, und er steht im Brennpunkt erweiterter Sinngebung von „Schulden“: als Gedächtnistechnik, Memorieren in verdichtender Buchführung. So wie ein Zugriff auf Geschichte diese auf Bonmots und Ikonen verkürzt (Retro) – oder zu ihnen zuspitzt (Rekurs). Den Schulden-Satz des „Schuldenkanzlers“ kennen viele. Keynesianer*innen lesen ihn als einen Imperativ; als Menetekel gilt er jenen, denen Staatsschuldenmachen, um Leute vor Verelendung zu bewahren (lassen wir den SP-Arbeitsfetisch mal beiseite), ein Gräuel ist. Was hat Kreisky hinterlassen? Den Sozialstaat – und Schulden. Wer in Sozialstaatlichkeit kein Grundübel sieht (aber z.B. ihren Paternalismus ablehnt), könnte weiter fragen, welchen sozialen (Klassen-)Kämpfen – und welchen Packeleien, um Kämpfe zu dämpfen – der Sozialstaat und seine Durchsetzung geschuldet sind. Sozialstaat in dem Sinn, dass das Kapital und seine Profiteur*innen ein bissl in die Pflicht, „bei ihrer Schuld“, genommen werden, sich nicht gänzlich aus der Welt, der sie ihren Reichtum extrahieren, vertschüssen können (hinter Villengartenmauern, in die Steuerfreiheit). Schulden als eine (Rest-)Form gesellschaftlicher Bezogenheit.

40 Jahre nach Kreiskys Satz und nach Erst-Erfolgen der neoliberalen Reaktion ist die Grund-Aversion gegen Sozialstaatlichkeit optimal eingeübt, tief verinnerlicht. Wie sonst ginge es an, dass in den Corona-Lockdowns Bevölkerungen eingesperrt und stillgelegt werden, weil die Intensivkrankenbetten-Anzahl oder Infektionsrisiken in der Altenpflege offenbar gott- oder naturgegeben festgelegt sind und der Gedanke, in mehr Betten, gute Pflege und Pflegearbeitsbedingungen für alle zu investieren – und dafür Staatsschulden zu machen –, absurd ist. Schulden sind Bezug zur Herkunft. Nicht umsonst klingt „You owe me“ gegengleich wie „Du [bist meine] Omi“ und debt wie dead – Herrschaft toter Arbeit über die lebendige (bzw. über nicht auf Arbeit reduzierbare Leben). Dass sich Kurz’ lange Lockdowns nicht zuletzt in einer Tradition christlichsozial-autoritärer Staatsmacht sehen lassen und dass der Gegroomte in Dollfuß’ Schuld steht, daran erinnerte am 31. Oktober 2020 ausgerechnet FPÖ-Ex-Innenminister Kickl, als er den Zweit-Lockdown mit dem klerikofaschistischen Standrecht vom Februar 1934 verglich. (Mitunter fährt die nationale Rechte die schärfste Polemik gegen die neoliberale Rechte, die ihr die Agenden klaut.) Bürgerkrieg 1934: Einer der Linkssozi, die in jenem Februar vergeblich Generalstreiksaufrufe druckten, war der junge Kreisky. Der spätere Schuldenkanzler. Zum Kanon seiner Bonmots zählt auch die Mahnung „Lernen S’ ein bissl Geschichte!“ Ein guter Imperativ. Als Projekt so löblich wie vergeblich: Schul den Kanzler, der heute Geschichte durch Brauchtumspflege und Sozialstaat durch Schulterschlusserlass ersetzt. 


Drehli Robnik schreibt zu Politik und Film, zuletzt zur Theorie des Pandemie-Spielfilms (Ansteckkino, 2020).