Wenn wir den Blick auf das Scheitern richten, fragen wir danach, wie Menschen mit Fehlern und Krisen umgehen, sowohl individuell als auch kollektiv. Sowohl in beruflichen als auch akademischen Kontexten nimmt die Beschäftigung mit dem Scheitern zu, wenn auch unter anderen Vorzeichen. Am Arbeitsplatz, sei es in Unternehmen oder anderen Organisationen, wird zunehmend eine Kultur gefördert, die Fehler und Krisen als Lernchance betrachten. Dabei gilt es das eigene Scheitern öffentlich zu machen, um anderen die Möglichkeit zu geben, daraus zu lernen. Das Ziel ist, ein Umfeld zu schaffen, in dem Innovationen und Verbesserungen möglich sind, ohne Angst vor dem Scheitern.1 Dabei gerät schnell aus dem Blick, dass man sich nur ein bestimmtes Scheitern in unserer Gesellschaft erlauben darf. Wenn (junge) Menschen keinen Schulabschluss erreichen, arbeitslos werden oder ihre Wohnung verlieren, kann dies zum Verlust von Handlungsoptionen bis hin zu „Bruchbiographien”2 führen. Die Betroffenen verfehlen gesellschaftliche „Normalitätsvorstellungen und -pflichten“³ und werden damit zu Verlierern, denen ein individuelles Versagen attestiert wird. Die Gesellschaft grenzt sich von ihnen ab; sie werden exkludiert und stigmatisiert.4
Von daher ist es nicht verwunderlich, dass Menschen – auch wenn Scheitern ein universelles Erlebnis aller Menschen ist5 – nur selten über eigene Erfahrungen des Scheiterns sprechen. Auf persönlicher Ebene kann der Umgang mit Scheitern herausfordernd sein. Wir machen uns häufig selbst dafür verantwortlich und suchen die Ursachen bei uns. Dabei ist Scheitern kein ausschließlich individuelles Thema. Es ist häufig ein Spiegelbild der Gesellschaft und ihrer Machtstrukturen; als solches berührt das Scheitern der anderen soziale Abstiegsängste insbesondere bei der Mittelschicht.6
Die postmoderne Gesellschaft programmiert uns Menschen auf Erfolg; wir haben verinnerlicht, danach zu streben. Was Erfolg ausmacht, wird im Sinne einer kulturellen Ideologie durch soziale Normierungen und Standards geprägt. Mica et al. sprechen von „regimes of failure“, womit sie hervorheben, dass Scheitern nicht einfach eine fehlgeschlagene Handlung ist, sondern „a complex mechanism of acknowledgements invested with power relations”7. Erfolg und Scheitern sind zwei Seiten einer Medaille – der Erfolg braucht das Scheitern, denn nicht alle können erfolgreich sein, auch wenn sie gleichermaßen versuchen das Ziel zu erreichen. Wie aber wird entschieden, wer erfolgreich ist und wer scheitert? Erfolg und Scheitern findet in sozialen Kontexten statt und Bewertungen werden durch Machtbeziehungen und bestehende Ungleichheitsstrukturen bestimmt. Wer Erfolg hat bzw. scheitert, ist meist abhängig vom jeweiligen Zugang zu Möglichkeiten und Ressourcen. Wer ohnehin gesellschaftlich aufgrund des Geschlechts, der Ethnie, sozialen Klasse, Behinderungen oder eines anderen Faktors benachteiligt wird, wird eher und vielleicht häufiger scheitern. Und das nicht, weil diesen Menschen die Fähigkeiten fehlen, sondern weil die Strukturen gegen sie arbeiten.
Können sogenannte „Fuck up Nights“ dabei helfen, das zu ändern? Vielleicht können sie dazu beitragen, dass wir Scheitern und den Umgang damit nicht mehr allein mit uns ausmachen, sondern darüber ins Gespräch kommen. Dies ist der erste Schritt, um anzuerkennen, dass auch andere Angst davor haben, Fehlschläge zu erleiden, Mitgefühl mit Gescheiterten zu zeigen und aufeinander zuzugehen.8 Ein Umgang mit dem Scheitern verlangt Solidarität sowohl der Gescheiterten untereinander als auch der Nicht-Gescheiterten mit ihnen, wobei paternalistische Bevormundung vermieden werden muss. Diese Solidarität erfordert ein politisches Engagement mit dem Ziel, sich für eine Veränderung der gesellschaftlichen Normalitäts- und Erfolgsvorstellungen sowie verbesserte Rahmen- und Hilfebedingungen einzusetzen.
Stefanie Kessler ist Professorin an der IU Internationale Hochschule und forscht u.a. zu Demokratie-Lernen und Politische Bildung in Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit.
1 Helen Veit, Helen: Fail faster. Performanzen des Scheiterns und die Idee der Vorläufigkeit, in: Manuel Trummer et al. (Hg.): Zeit. Zur Temporalität von Kultur. Münster 2023, S. 138.
2 Ulrich Beck: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt a. M. 1986.
3 Heike Solga: Das Scheitern gering qualifizierter Jugendlicher an den Normalisierungspflichten moderner Bildungsgesellschaften, in: Matthias Junge / Götz Lechner, (Hrsg.): Scheitern. Aspekte eines sozialen Phänomens. Wiesbaden 2004, S. 97.
4 Matthias Junge: Scheitern und Scheiternbewältigung vor dem
Hintergrund empirischer Daten, in: Katharina Karl (Hrsg.): Scheitern
und Glauben als Herausforderung. Würzburg 2013, S. 10.
5 Matthias Junge und Götz Lechner: Scheitern als Erfahrung und Konzept. Eine Einführung, in: dies. (Hrsg.): Scheitern. Aspekte eines sozialen Phänomens. Wiesbaden 2004, S. 7.
6 Matthias Junge: Scheitern und Scheiternbewältigung, S. 12.
7 Adriana Mica et al.: Fail! Are we headed towards Critical Failure Studies?, in: dies. (Hrsg.): Routledge International Handbook of Failure. London/New York 2023, S. 3.
8 Stefanie Kessler / Karsten König (Hrsg.): Scheitern in Praxis und Wissenschaft der Sozialen Arbeit. Weinheim/Basel 2024, S. 340.