Das falsche Lob der sozialen Sicherheit

Zwanzig Jahre Kritik der „Künstlerkritik“

Nun ist es zwanzig Jahre her, dass das ganze künstlerische Feld einem schlimmen Verdacht, ja einer Anschuldigung ausgesetzt wurde: War vorher dank kunstsoziologischer Studien schon klar, dass wir es beim ganzen Kunstbetrieb mit einem sehr bürgerlichen, sehr distinktiven und sehr elitären Feld zu tun haben, kam 1999 ein weiterer Vorwurf hinzu. Luc Boltanski und Ève Chiapello bezichtigten in ihrem 2003 auf Deutsch erschienenen Werk Der neue Geist des Kapitalismus die sogenannte „Künstlerkritik“, eben jenen titelgebenden Esprit erneuert zu haben. Das Buch, dessen Titel sich an Max Webers Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus anlehnt, war extrem einflussreich. Es prägte viele Debatten im transnationalen Kunstfeld der 2000er Jahre.

Der kapitalistische Geist verändert sich. Kollektive Einstellungsmuster und Legitimationsweisen wandeln sich im Laufe der Zeit, und eine Motivation für diesen Wandel ist die Kritik. Der „neue Geist des Kapitalismus“, der das neoliberale Zeitalter prägt, ist nach Boltanski und Chiapello im Wesentlichen der Effekt von zwei Formen der Kritik am Kapitalismus: Der „Sozialkritik“ und der „Künstlerkritik“. Beide Kritikformen oder Kritikmodi unterscheiden sich grundlegend, sie haben sehr unterschiedliche Quellen und verschiedene Ziele: Die „Sozialkritik“ speist sich aus der Empörung über Armut, Ungleichheit und dem Verlust gesellschaftlichen Zusammenhalts, die „Künstlerkritik“ hingegen ist motiviert durch den Kampf gegen Abhängigkeiten und für authentische Beziehungen. Das Ziel der „Sozialkritik“ ist (soziale) Sicherheit, während die „Künstlerkritik“ auf Freiheit zielt. Das mag jetzt sehr schematisch klingen, aber so zweigeteilt und gegensätzlich sind „Sozialkritik“ und „Künstlerkritik“ bei Boltanski und Chiapello auch konzipiert. Der Zweiteilung der Kritik entsprechend einseitig fällt ihr Urteil aus: Während die „Sozialkritik“ – aus der sozialistischen ArbeiterInnenbewegung stammend – reaktiviert werden soll, wird die „Künstlerkritik“, ihrer Herkunft nach den künstlerischen Avantgarden, der Bohème und den 68ern zugerechnet, verworfen.

Die Diskussionen um das Buch, die im Kunstfeld geführt wurden, drehten sich im Wesentlichen darum, ob und wenn ja inwiefern, der These von Boltanski und Chiapello zuzustimmen sei. Es wurde eine kleine diskursive Lawine der kollektiven Selbstkritik ausgelöst. Statt den Kapitalismus abzuschaffen, habe die „Künstlerkritik“ mit dem „Flexibilitätskonsens“ (Boltanski/ Chiapello) zu einem seiner besten Garanten hinsichtlich des ihm zugrundeliegenden Geistes maßgeblich beigetragen.

Zwar ist kaum von der Hand zu weisen, dass einst allein künstlerischen Lebensmodellen zugeschriebene Charakteristika – Flexibilität, Mobilität, Kreativität u.a. – sich als Imperativ auf viele Berufszweige und Lebensweisen im neoliberalen Kapitalismus ausgedehnt haben. Dennoch muss die These von Boltanski und Chiapello auch zwanzig Jahre nachdem sie aufgestellt wurde stark in Frage gestellt werden. Und zwar auf mehreren Ebenen:

Erstens liegt die Frage auf der Hand, ob tatsächlich die Künstler* innen mit ihrer Kritik am Authentizitätsverlust, am grauen Alltag und der Entfremdung so mächtig gewesen sind, dass sie sich mit ihren Anliegen durchsetzen konnten. Oder ob nicht Das falsche Lob der sozialen Sicherheit Zwanzig Jahre Kritik der „Künstlerkritik“ vielmehr die ökonomischen Eliten eine Modernisierung des Kapitalismus von sich aus erwogen und umgesetzt haben. Dabei war ihnen das eine oder andere Motiv subkultureller Mobilisierung sicherlich hilfreich,vielleicht sogar sympathisch. In der Managementliteratur, die Boltanski und Chiapello untersucht haben, sind aber die tatsächlichen Ziele der „Künstlerkritik“ gar nicht mehr zu finden. Der Großteil der Beatniks, Hippies, Feministinnen, Situationist*innen und anderer bohemistischer Aktivist*innen der 1960er Jahre hatten alles Mögliche im Sinn, aber sicher nicht die Erneuerung des kapitalistischen Geistes. Gut, ließe sich dem entgegenhalten, es geht auch mehr um kontingente Effekte als um Intention und Wirkung. Dann aber, wenn man die Erneuerung des kapitalistischen Geistes bloß als nicht-intentionale Nebenfolge „künstlerkritischer“ Vergesellschaftung liest, gibt es auch keinen zwingenden Grund, die „Künstlerkritik“ als solche zu bekämpfen. Das haben Boltanski und Chiapello aber getan.

Zweitens stellt sich nach wie vor die Frage, ob die Gegenüberstellung von „Künstlerkritik“ und „Sozialkritik“ überhaupt plausibel ist. Liest man die Texte von Bohemians wie Erich Mühsam oder Guy Debord, so zeigt sich sowohl für den Beginn des 20. Jahrhunderts als auch für die 1950er und 60er Jahre, dass die unterschiedlichen „Empörungsmotive“ (Boltanski/ Chiapello) durchaus miteinander verschränkt sind: Unterdrückung und Armut, Entfremdung und Vereinzelung werden gleichermaßen kritisiert. Bei aller bohemistischen Kritik am patriarchalen Spießertum auch der Arbeiter*innenklasse verstanden Antikapitalisten wie Mühsam und Debord – nur um bei den Beispielen zu bleiben – ihre, sagen wir mal lebensweltlichen Politisierungsansätze in Kneipen und Umherschweifen nicht als Gegenmodell, sondern als Begleitung und/ oder Radikalisierung sozialistischer, arbeiterbewegter Praxis. Wenn die anarchistisch-rätekommunistische Tradition von Mühsam und Debord auch nur die minoritäre Radikalversion des Zusammendenkens von sozialer Ungleichheit und individueller Autonomie ist, so kann sie doch nicht einfach ausgeblendet werden.

Daran anschließend fragt sich drittens, wie die Dynamik zwischen (sozialer) Sicherheit und Freiheit eigentlich beschaffen ist. Boltanski und Chiapello erwecken den Eindruck, als hätten die Herrschenden den Beherrschten ein Angebot gemacht, dass diese nicht ausschlagen konnten: Die Freiheit – Partizipation, gleitende Arbeitszeiten, flache Hierarchien usw. – wird ausgebaut, dafür wird die (soziale) Sicherheit abgebaut. Aber das war nicht der Fall, es gab keinen Deal. Im Gegenteil: Freiheiten wurden erkämpft, auf verschiedenen Terrains sowohl von den Bohemians als auch von Gewerkschaften und Betriebsräten, und Sicherheiten wurden ganz unabhängig davon immer weiter heruntergefahren und der Profitlogik geopfert. Prekarisierung ist kein und war nie Ergebnis eines Aushandlungsprozesses.

Das alles in Rechnung gestellt, war das Plädoyer von Boltanski und Chiapello für soziale Sicherheit wohl doch keine Erneuerung der politischen Kritik in den Sozialwissenschaften. Sondern eher, wie der postoperaistische Soziologe Maurizio Lazzarato meint, nur eine weitere „Abrechnung mit dem Mai 68“.


Oskar Lubin betreibt postanarchistische Künstler*innen- und Sozialkritik und ist Autor von Triple A. Anarchismus, Aktivismus, Allianzen. Kleine Streitschrift für ein Upgrading. Münster 2013: edition assemblage.