Auf einer dreitägigen Aktionskonferenz Care Revolution Mitte März in Berlin hat eine noch im Werden begriffene Care-Bewegung deutlich an politischer Kraft gewonnen. 500 Aktivist_innen diskutierten drei Tage lang, wie eine Gesellschaft gestaltet werden müsste, in der grundlegende Lebensbedürfnisse verwirklicht werden können. Im Zentrum stand dabei das Recht, selbstbestimmt für sich und andere zu sorgen und selbstbestimmt zu entscheiden, von wem wir versorgt werden wollen. Unterstützt wurde diese Aktionskonferenz von einem breiten Spektrum von 60 lokalen Gruppen bzw. kleineren Verbänden aus dem deutschsprachigen Raum, die in Care-Bereichen aktiv sind: von pflegenden Angehörigen über queer-feministische Gruppen, von Elterninitiativen über migrantische Selbstorganisationen, von Verdi- und GEW-Betriebsgruppen im Bereich der Pflege und Erziehung über verschiedene Gruppen aus dem Spektrum sozialer Bewegungen.
Verbindend war das Ziel einer Care Revolution. Darunter verstehen wir ein politisches Konzept, das die grundlegende Bedeutung der sorgenden und pflegenden Tätigkeiten, auch Care Work genannt, für alle Menschen hervorhebt. Es knüpft an die Erkenntnisse feministischer Ökonomie an, wonach die lebensnotwendigen Arbeiten sozialer Reproduktion im hegemonialen Diskurs kaum Bedeutung erlangen. Care Work bleibt als typische Frauenarbeit, unbezahlt in Familien oder schlecht bezahlt in sozialen Dienstleistungsberufen, weitgehend unsichtbar. So sind viele Menschen, vor allem Frauen mit Sorgeverpflichtungen für Kinder oder Pflegebedürftige, gezwungen, diese Tätigkeiten ohne gesellschaftliche Unterstützung oft am Rande der vollständigen Überbeanspruchung neben der eigenen Berufstätigkeit auszuführen. Das kapitalistische System beschränkt mit entgrenzter und prekärer Lohnarbeit die Zeit und Ressourcen für diese wichtige Sorge- bzw. Reproduktionsarbeit. Gleichzeitig reduziert der Staat Aufwendungen in der Daseinsvorsorge, verschlechtert die Bedingungen von Care-Beschäftigten und verlagert diese Aufgaben zurück in die Familien. So zerstört die derzeitige polit-ökonomische Entwicklung die existenzielle Absicherung und soziale Förderung menschlichen Lebens. Wir sprechen deswegen von einer Krise sozialer Reproduktion.
Mit der Care Revolution plädieren wir für einen grundlegenden Perspektivenwechsel. Dabei geht es um die Forderung, dass nicht Profitmaximierung, sondern die Verwirklichung menschlicher Lebensinteressen im Zentrum politischen Handelns stehen sollte. Ausgehend von der Care Work geht es um die Verwirklichung all derjenigen Aufgaben, die zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse und für die individuelle und generative Reproduktion notwendig sind, die auf den Gebrauchswert abheben und nicht der kapitalistischen Verwertungslogik folgen. So werden Zeit für Sorgearbeit, Zeit für politisches und zivilgesellschaftliches Engagement sowie Zeit für Muße – bei gleichzeitiger sozialer Absicherung – zum Ziel gesellschaftlicher Transformation.
Wir unterscheiden bei der Care Revolution zwischen individueller Absicherung und kollektiver Realisierung von Care- Dienstleistungen. Zunächst muss jeder Mensch individuell das Recht haben, sich ohne Existenzsorgen um sich und andere, Freund_innen, Angehörige, Nachbar_innen kümmern zu können. Auch muss jede Person selbstbestimmt entscheiden können, wer sie versorgt und ihr behilflich ist. Dafür bedarf es für jedes Individuum ausreichend finanzieller und zeitlicher Ressourcen. Mit einer solchen Zielrichtung lässt sich dann beispielsweise anknüpfen an Reformvorhaben wie Arbeitszeitverkürzung mit Personal- und Lohnausgleich und auch an Auseinandersetzungen um das Bedingungslose Grundeinkommen.
Darüber hinaus gibt es aber auch viele Aufgaben, die wir auch heute schon kollektiv, in Gemeinschaft regeln. Und diese Aufgaben werden in einer an Care orientierten Gesellschaft noch weiter zunehmen. Für uns stehen diese grundlegenden kollektiven Formen der Daseinsvorsorge im Zentrum einer Ökonomie. Deswegen ist der Ausbau von Care-Dienstleistungen in der Bildung und Erziehung, in der Gesundheit und Pflege wichtig. Selbstverständlich müssen gleichzeitig die Arbeitsbedingungen und die Verdienstmöglichkeiten der Care-Beschäftigten deutlich verbessert werden.
Verbunden mit humanen Aufenthaltsgesetzen ließen sich so auch die Arbeitsbedingungen von Migrant_innen in der häuslichen, aber auch in der privatwirtschaftlichen und staatlichen Betreuungs- und Pflegearbeit verbessern und legalisieren. Mit diesen politischen Leitlinien lässt sich Arbeit im ganz umfassenden Sinne, also inklusive der familiären Sorgearbeit, auch zwischen den Geschlechtern umverteilen.
Die dargestellten Maßnahmen einer Care Revolution, die für eine ökonomisch hoch entwickelte Gesellschaft als Selbstverständlichkeit gelten müssten, sind allerdings nur über Umverteilung von oben nach unten realisierbar. Dazu bedarf es einer starken Care- Bewegung. Ausgangspunkt für Widersetzungspraxen und die Gestaltung eines selbstbestimmten Lebens sind kollektive Selbstreflexionsprozesse, die an alltäglichen Erfahrungen anknüpfen. Dabei wird deutlich, dass persönliche Einschränkungen der Lebensperspektiven keine individuelle Angelegenheit, sondern auf strukturelle, veränderbare Bedingungen zurückzuführen sind. Hier ergeben sich zahlreiche inhaltliche Anschlüsse an Initiativen und Netzwerke, die sich mit sozialen, aber auch ökologischen Transformationsprozessen auseinandersetzen. Verbindend könnte die radikale Erkenntnis sein, dass menschliche Lebensinteressen nicht über profitorientierte Kapitalakkumulation zu verwirklichen sind, sondern nur durch gemeinschaftliches Handeln und Solidarität. Insofern verstärken an der Care Revolution orientierte politische Aktivitäten antikapitalistische Politiken und eröffnen neu gewendete Debatten um sozialistische Visionen.
Das Bündnis, das die Aktionskonferenz Care Revolution getragen hat, wird weiter arbeiten. Noch in diesem Jahr soll ein Verein Netzwerk Care Revolution gegründet werden, der ein Kampagnenbüro unterhält. Dieses Büro soll vor allem lokale, regionale und bundesweite Care-Aktivitäten vernetzen. Schon in den nächsten Wochen wird es eine Zusammenarbeit von unterschiedlichen Care-Initiativen geben. So werden Initiativen bei den Blockupy Aktivitäten, wie bereits im letzten Jahr, und beim 1. Mai die unsichtbare Arbeit sichtbar machen und damit die Care Revolution auf die Straße tragen.
Gabriele Winker ist Professorin für Arbeitswissenschaft und Gender Studies an der TU Hamburg-Harburg. Sie ist Mitbegründerin des Feministischen Instituts Hamburg, das zusammen mit der Rosa- Luxemburg-Stiftung und dem AK Reproduktion die Aktionskonferenz Care Revolution politisch vorbereitet und organisatorisch durchgeführt hat.
http://www.feministisches-institut.de