„… auch eigene Grenzen, Denkweisen und Privilegien infrage stellen …“

Etwas Besseres als die Nation im Gespräch mit Ismail M. Mosa (Silent University) und Anne und Nina (Bundeskoordination Internationalismus, BUKO)

Bildpunkt: Die BUKO (Bundeskoordination Internationalismus, früher: Bundeskongress entwicklungspolitischer Aktionsgruppen) ist im Kontext der Solidaritätsarbeit mit Befreiungskämpfen im globalen Süden entstanden. Die Arbeits- und Aktionsfelder haben sich seit der Gründung 1977 stark verändert und auch vervielfältigt. Der jährliche BUKO-Kongress ist inzwischen vielleicht sogar das wichtigste überregionale Treffen radikaler Linker und basisbewegter AktivistInnen im deutschsprachigen Raum. Uns würde interessieren, wie ihr euren namensgebenden Internationalismus versteht – weniger definitorisch als gerne am Beispiel. Und: Euer Kongress im Mai diesen Jahres hatte das Motto future. unwritten/ transnational. solidarisch – wäre eine Umbenennung in Bundeskoordination Transnationalismus denkbar?
A.: Die BUKO stellt ein Netzwerk aus ca. 120 Gruppen und 100 Einzelpersonen dar, wobei sich für die Organisation des alljährlichen Kongresses eine lokale Gruppe zusammenfindet, die mit dem bundesweiten Netzwerk zusammenarbeitet. Wir können nicht für die ganze BUKO sprechen. Der Internationalismus- Begriff ist Kern der Auseinandersetzung und auch ständig Gegenstand von Diskussionen, so war z. B. in den 1990er Jahren die Einsicht da, dass Befreiung nur global möglich ist und über ein „Wir“ als Länder des globalen Nordens hinaus gehen muss, dass sich mit einem „Ihr“, also den Ländern des globalen Südens, solidarisiert. Der BUKO wurde 2002 schon umbenannt, als Gegenentwurf zum Entwicklungsgedanken. Der Titel transnational solidarisch fokussiert die Frage von Nationalstaaten, der Begriff Nation steckt ja sowohl in inter- wie transnational mit drin. Wollen wir also real existierende Machtstrukturen aufzeigen, oder schon im Namen eine Utopie formulieren? Eine Umbenennung zu BUKO Transnationalismus ist sicherlich denkbar, steht jedoch zur Zeit nicht so konkret zur Debatte. Dies würde einen Prozess der Aushandlung bedeuten und eine Auseinandersetzung mit der Geschichte und Entwicklung der Internationalistischen Bewegungen voraussetzen. Der Begriff Transnational ist weniger verbreitet und wird vor allem auch verwendet, um das Aktionsfeld von großen Konzernen seit der Globalisierung zu beschreiben. Jedoch berufen sich auch emanzipatorische und basisdemokratische Bewegungen auf den Begriff. Ein bekanntes Beispiel ist das transnational organisierte Netzwerk Afrique-europe-interact, in dem Basisaktivist_ innen vor allem aus Mali, Togo, Deutschland, Österreich und den Niederlanden mit unterschiedlicher lokaler Organisationsstruktur zusammenarbeiten.

Bildpunkt: The Silent University wurde 2012 von dem kurdischen Künstler Ahmet Ög˘üt initiiert und versteht sich als Wissensplattform von und für Refugees, Asylsuchende(n) und MigrantInnen. Kooperiert wird u.a. mit der Tate Modern, der Austausch von Wissen findet vor allem in London, Stockholm und Hamburg statt. Welche Errungenschaften und welche Schwierigkeiten gibt es dabei, ein transnationales Netzwerk aufzubauen, das zugleich im Kunstfeld und in einem der zentralen gesellschaftspolitischen Diskurse wie der Migration verortet ist?
I.M.:
Eine der wichtigsten Errungenschaften der Silent University ist es, das vor der Migration bzw. Flucht erworbene Wissen von Refugees und Asylwerber_innen in den Kontexten zu reaktivieren, in denen sie (zum Teil vorübergehend) angekommen sind. Die Silent University unterstützt Austausch innerhalb und zwischen den verschiedenen communities und gibt den Vortragenden Raum, ihre Fähigkeiten in neuen Zusammenhängen fruchtbar zu machen und auszubauen. Alle Errungenschaften bringen Herausforderungen mit sich. Die Herausforderungen für die Silent University sind vor allem die Wahrnehmungen der Menschen: Refugees und Asylwerber_innen haben oft die Hoffnung verloren angesichts der verschiedenen politischen Hürden, denen sie begegnen. Sie sind unter Druck und deprimiert wegen ihrer fehlenden Bewegungsfreiheit und Arbeitserlaubnis. Wir versuchen also immer neue Strategien zu finden, wie wir diese Herausforderungen überwinden können, um die brillanten Geister dieser Menschen nicht zu sehr beeinträchtigt zu sehen, sondern vorwärts zu schreiten.

Bildpunkt: Es existiert unserer Ansicht nach selbst in den dafür zuständigen Wissenschaften eine häufig auftretende Verwechselung zwischen dem rein beschreibenden „transnational“ und dem normativen „transnationalistisch“. Das Wort „transnationalistisch“ enthält einen Anspruch, nämlich gegen nationalstaatliche Strukturen und Denkweisen vorzugehen, während „transnational“ auch das Überweisen von Geld zu Familienangehörigen in anderen Ländern oder die Wahrnehmung von Sportereignissen irgendwo auf der Welt sein kann. Dabei wird nichts Infrage gestellt. Wo setzt ihr bei eurer Arbeit mit einer transnationalistischen Agenda an?
N.:
Migration, die beispielsweise auch stattfindet, um Geld zu verdienen und dieses an Familienangehörige zu überweisen, kann als Angriff gegen nationalstaatliche Strukturen und Zuordnung verstanden werden, auch wenn sie nicht mit der konkreten Intention transnationalistisch zu handeln stattfindet. Der transnationalistische Kampf für eine befreite Gesellschaft ist eine Herausforderung, bei der auch eigene Grenzen, Denkweisen und Privilegien infrage gestellt werden müssen. Hierfür müssen wir uns vernetzen und voneinander lernen, ohne dabei konkret zu wissen, wie eine befreite Gesellschaft aussehen wird. Der BUKO soll einen Raum schaffen, sich über lokale Kämpfe auszutauschen und neue Denk- und Handlungsweisen zu erarbeiten.
I.M.: Die Silent University agiert autonom und wird von Geflüchteten, Asylsuchenden und Migrant_innen organisiert. Sie wird von einer Gruppe von Vortragenden, Berater_innen und Forschenden geleitet. Diese tragen in unterschiedlicher Weise zum Programm bei – durch Kursentwicklung, moralische Unterstützung und Förderung der Person, die vortragen möchte. Das ist meine Aufgabe als Berater. Die Silent University hat schon viel erreicht und wir haben noch mehr Pläne. Es ist die einzige Plattform, die Geflüchteten, Asylsuchenden und Migrant_innen ermöglicht, ihr Wissen zu reaktivieren.

Bildpunkt: Ein Dilemma für aktuelle transnationalistische Aktivitäten besteht unseres Erachtens in der – schon zu Zeiten der globalisierungskritischen Bewegungen diskutierten – Notwendigkeit, angesichts etwa neoliberaler Freihandelsabkommen, staatliche Institutionen und Strukturen als humanistische Mindeststandards verteidigen zu müssen. Welche Rolle spielt dieses Dilemma in eurer Arbeit?
I.M.:
Wir wissen alle, dass die Globalisierung unser ganzes Le ben auf die eine oder andere Art beeinflusst. Ich glaube, das ist ein Problem der gesamten Welt, das auf einer Win-Loose-Konstellation aufbaut, in der Wenige von der Ausbeutung Vieler profitieren. Es gibt viele transnationale Verbindungen und multiplen Austausch über die Grenzen von Nationalstaaten hinweg, die Menschen und Institutionen miteinander verbinden. Und das ist gut. Ja, es ist paradox, eine Regierung zu verteidigen, mit deren Mitteln du nicht übereinstimmst. Aber sie sind dennoch die einzigen, die eine bessere Zukunft für die nächste Generation bringen können. Es geht nicht darum, Regierungen abzuschaffen, es geht darum, sie zu verbessern. Transnationalistisch zu agieren bringt für alle einen Gewinn.
A.:
In einer Welt, die noch immer maßgeblich durch Nationalstaaten strukturiert ist, stellen diese natürlich auch einen Bezugspunkt in der Arbeit der emanzipatorischen Linken dar. Zum Beispiel findet die Aushandlung der Freihandelsabkommen in untransparenten Prozessen durch die G8 bzw. G7 Staaten statt. So sind Regierungen Adressat_innen der Kritik – auch in einem neoliberalen System gibt es Verantwortliche. Unter anderem die Freihandelsabkommen verfestigen postkoloniale Machtstrukturen, die für eine ungleiche Verteilung des Kapitals, ungleichen Zugang zu Bewegungsfreiheit, Bildung und anderen Ressourcen führt. Angesichts dieser gewaltvollen, oft übersehenen Politik, der fortdauernd Menschen zum Opfer fallen, ist es schwer, die Proklamation von Menschenwürde und „humanistischen Mindeststandarts“ ernst zu nehmen.

Bildpunkt: Notwendigerweise unvollständig und (noch) utopisch: Welche wären die euch wichtigsten Errungenschaften, die in einem Leben nach dem Nationalismus umgesetzt sein sollten?
I.M.: Mir selbst war immer wichtig, mich bilden zu können und Ideen mit Leuten unterschiedlichen Glaubens, verschiedener Hautfarben, Sprachen und Moralvorstellungen austauschen zu können.
N.: Das gute Leben ist nicht mit der Überwindung des Nationalismus erreicht. Es gibt nicht die Leerstelle nach der Revolution, die dann mit unseren Utopien gefüllt wird. Vielmehr ist Emanzipation ein Prozess, der nie endet und in dem wir stets diverse Herrschaftssysteme und Unterdrückungsmechanismen zusammendenken und hinterfragen müssen. Dabei leitet uns die Überzeugung, dass allen Menschen unabhängig von Geschlecht, Herkunft, Religion, Körperlichkeit und Aussehen ein selbstbestimmtes Leben zusteht.


Anne und Nina waren in der lokalen Organisationsgruppe des diesjährigen BUKO Kongresses in Münster beteiligt. Beide kennen die BUKO seit etwa einem Jahr und waren in den Themenbereichen Antirassismus und Queerfeminismus aktiv.

Ismail M. Mosa ist in Somaliland aufgewachsen und hat dort Wirtschaft studiert. Er hat für verschiedene lokale und UNOrganisationen in Zentral- und Südafrika im Bereich Konfliktlösung, Friedenskonsolidierung, Diplomatie für Frieden und Sicherheit, Wiederaufbau und Versöhnung gearbeitet. Er setzt derzeit sein Studium an der Leuphana Universität in Lüneburg im Sustainability Management fort.

Das Gespräch wurde im Mai 2015 per E-Mail von Jens Kastner und Sophie Schasiepen geführt. Übersetzung der Antworten von Ismail M. Mosa aus dem Englischen von Sophie Schasiepen.