Kreativität ist zur Routine geworden. Sie lässt sich auf eine einfache wie prägnante Formel bringen: Menschliche Kreativität schafft Innovation, Innovation wiederum führt zu Wirtschaftswachstum, welches es durch gezielte Strategien zu mobilisieren gelte. Dabei stellt Kreativität Unternehmen wie Stadtverwaltungen vor ein Paradox: Um sie verwerten zu können, muss sie steuer- und reproduzierbar gemacht werden. Wie aber lässt sich etwas steuern, das man gerade dadurch definiert, dass es spontan, genial und damit nicht steuer- oder reproduzierbar ist? Kreativitätsroutinen versprechen dieses Paradox alchemistisch und kostengünstig zu lösen. Sechs Thesen zu ihrer Entzauberung:
1. Kreativität ist keine anthropologische Eigenschaft.
Sie ist eine Subjektivierungsweise, die auf die Erfindung der Bohème bzw. des Künstlergenies zurückgeht (vgl. Reckwitz 2012).
2. Kreativität lässt sich als eine Form der Problematisierung verstehen.
Problematisierung (Foucault 2005 [1984]) bezeichnet dabei die spezifische Form, in der Subjekte, Unternehmen oder Städte ihre Akkumulations- und Steuerungsprobleme im gegenwärtigen kognitiven Kapitalismus rahmen und damit ganz bestimmten Formen der Bearbeitung zugänglich machen. In Unternehmen betrifft dies vor allem die Frage, wie „gutes Management” Menschen zur eigenständigen Lösung von Problemen anleiten könne. Auf der Ebene des Subjekts leitet Kreativität eine eigenständige Selbstführung an. In Städten rahmt sie vor allem die Frage wie Kreative und entsprechende Unternehmen anzuziehen seien, um im Wettbewerb vorne mitspielen zu können.
3. Kreativität ist eine neue Form der Regierung, die eine Reihe sozialer Technologien performativ in Gang setzt.
„Kreativitätsroutinen“ stellen konkrete Bearbeitungsversuche des Kreativitätsparadoxes dar. Sie versuchen freie, nicht standardisierbare Prozesse in Management- und Governance-Instrumente zu übersetzen, um Ideen einem ökonomischen Verwertungsprozess zuzuführen. Kreativität ist damit nicht länger eine Frage des Musenkusses, sondern der richtigen Anwendung ebendieser Technologie. Diese Formen der Bearbeitung können als neue soziale Technologien bezeichnet werden, die zu einer Reartikulation von Regierung des Selbst, von selbständiger Arbeit und der postindustriellen Stadt führen (vgl. Dzudzek 2014).
4. Kreativität ist eine Subjektivierungsweise und marschiert in Nonkonformist_innen-Uniform durch die Institutionen.
Als neue Subjektivierungsform ruft Kreativität Werte wie Autonomie, Selbstverwirklichung, Authentizität und Freiheit an. Wer sollte das schlecht finden? Kreativität als Führungstechnologie operiert über Freiheit und die Herstellung eines „Möglichkeitsfeldes“ (Foucault 2005 [1982], S. 285). Auf diese Weise nimmt sie das Subjekt „maschinisch in Dienst“ (Raunig 2012) und macht es zunehmend für das verantwortlich, was zuvor in der Verantwortung von Unternehmen oder des Staates lag: die Sicherstellung von Innovationsleistungen und ökonomischem Erfolg, die Aufwertung von Stadtvierteln oder die Bereitstellung kultureller und sozialer Infrastruktur. Hier verkehrt sich das Freiheits-, Emanzipationsund Authentizitätsversprechen des „Neue(n) Geist des Kapitalismus“ (Boltanski und Chiapello 2003 [1999]) schnell in einen „kreativen Imperativ“ (von Osten 2003) und führt zu einer Ausweitung des Kapitalverhältnisses auf den ganzen Menschen sowie zu einer zunehmenden Prekarisierung von Arbeitsverhältnissen (Lorey 2007). Regierung zeigt sich in einer Gleichzeitigkeit von Unterwerfung und Freiheit.
5. Kreativität führt zu Entsolidarisierung und sozialer Ungleichheit.
In dieser schönen neuen Arbeitswelt ist politische Organisation gegen die Verschlechterung von Arbeitsstandards Mangelware: Gewerkschaften gelten als total out, politisches Engagement wird – sofern überhaupt noch vorhanden – zum Teil der Performance der Marke „Ich“ und auch Mitbestimmung am Arbeitsplatz, das Recht auf Elternzeit oder Lohnfortzahlung im Krankheitsfall werden als Rechte zunehmend weniger wahrgenommen und verteidigt (McRobbie 2011). Die kreative Stadt behält ihre Annehmlichkeiten für die gut qualifizierte Mittelschicht vor, wird sozial undurchlässiger und kommt zunehmend ohne eine demokratische Bildungspolitik aus. Dies führt zu einer fortschreitenden Desartikulation des Sozialen zugunsten des Kulturellen sowie einer Entsolidarisierung und Depolitisierung kreativer Subjekte (vgl. Dzudzek 2014).
6. Vergesst Kreativität!
Ist Kreativität unter diesen Umständen noch zu retten? Eine Regierungstechnologie, die über Freiheit operiert, bleibt eine Regierungstechnologie, die „die Macht in der Form und nach dem Vorbild der Ökonomie“ (Foucault 2000 [1978], S. 49) ausübt. Wichtiger erscheint mir daher, Freiheit jenseits ihrer maschinischen Indienstnahme durch die kreativen Ökonomien und die kreative Stadt wiederzugewinnen, um Subjektivität nicht auf die Position des neoliberalen Culturepreneurs zu verengen, sondern Experimentierfelder für andere Lebens- und Subjektivierungsweisen zu öffnen. Diese Auseinandersetzung kann nur politisch und in Solidarität mit anderen geführt werden.
Iris Dzudzek forscht und lehrt am Institut für Humangeographie in Frankfurt. Im Rahmen ihrer Promotion hat sie die Rolle von Kreativpolitiken für die Reartikulation städtischer Regierung untersucht. Neben einem studium generale in Tübingen hat sie Geographie, Soziologie und öffentliches Recht in Münster studiert.
Literatur
Luc Boltanski, Ève Chiapello: Der neue Geist des Kapitalismus. UVK, Konstanz 2003 (1999).
Iris Dzudzek: Kreativpolitik – Artikulationen und Machteffekte einer neuen Regierungsform des Städtischen. Inauguraldissertation. Münster 2014.
Michel Foucault: Gouvernementalität. In: Ulrich Bröckling, Susanne Krasmann und Thomas Lemke (Hg.): Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2000 (1978), S. 41–67.
Michel Foucault: Polemik, Politik und Problematisierungen. In: Michel Foucault: Dits et écrits. Schriften Bd. 4. 1980–1988. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2005 (1984), S. 724–734.
Michel Foucault: Subjekt und Macht. In: Michel Foucault: Dits et écrits. Schriften Bd. 4. 1980–1988. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2005 (1982), S. 269–294.
Isabell Lorey: VirtuosInnen der Freiheit. Zur Implosion von politischer Virtuosität und produktiver Arbeit. In: Grundrisse 27, 2007, S. 4–10.
Angela McRobbie: Re-thinking creative economy as radical social enterprise. In: Variant (41), 2011, S. 32–33.
Marion von Osten: Be Creative! Der kreative Imperativ. In: Marion von Osten und Beatrice von Bismarck (Hg.): Norm der Abweichung. Institut für Theorie der Gestaltung und Kunst. Springer, Zürich 2003, S. 159–210.
Gerald Raunig: Industrien der Kreativität. Diaphanes, Zürich 2012.
Andreas Reckwitz: Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung. Suhrkamp, Berlin 2012.