Auch wenn Identifizierungen stets als wichtig und selbstverständlich für die Subjektentwicklung vorausgesetzt werden, bergen sie dunkle Seiten hinsichtlich des Imaginären, dem Bildlichen, dem Ähnlichen, dem Doppelgänger und damit den narzisstischen Vorstellungen von uns selbst. Ein Subjekt entwickelt sich interpsychisch durch und mit den Anderen (spezifische Umwelt), die zuerst da sind und mit ihren Vorstellungen, Erwartungen, Idealen, Ansprüchen, aber auch ihrem Unbewussten und Verdrängten zunächst auf den Säugling einwirken, der all das noch nicht kennt und auch nicht denken kann, da er noch über keine Sprache verfügt. Die Anderen sind aber bereits Gekränkte, Enttäuschte, Beängstigte, Gescheiterte oder Erfolgreiche, Gewinner_innen oder Verlierer_innen. So gesehen werden wir zuerst identifiziert durch den Anderen, bevor wir uns identifizieren mit was auch immer. Wir werden zuerst gesprochen bevor wir selbst sprechen. So bleiben wir stets gespalten zwischen dem, was wir selbst sehen (wollen) und dem, wie wir gesehen werden. Dabei bildet die körperliche Vorstellung von Ganzheit und Mangel die Matrix: Zu klein? Zu dick? Zu schmale Schultern? Zu schwach? Ein (graues) Haar? Ein schlaffer Bauch? In Erweiterung davon: Status zufriedenstellend? Eigene Kinder eine Kränkung? Fremde eine Bedrohung oder Bereicherung? Freud zeigt uns in seiner Narzissmusabhandlung (1914), dass das Subjekt diese Kränkungen von Mangelerlebnissen gerne verleugnet, da es die in seiner Kindheit genossene omnipotente Selbstliebe nicht entbehren mag und bemüht ist, sie in immer neuen Varianten der Ichliebe zurück zu gewinnen und weiterzuspinnen. Wir lassen nicht gelten, dass wir nicht Herr/Frau im eigenen Haus sind. Da also alles, womit man sich identifiziert vom anderen kommt, bleibt Ich stets ein Anderer. Der Weg führt vom Ich zur Subjektwerdung. Im Imaginären nähren sich Eifersucht und Neid: Wer bekommt mehr (von Vater/Mutter, von der ChefIn, von der PartnerIn, vom Staat?)? Wer ist stärker? Wer ist potenter? Wer hat die schönere Freundin? Wer hat das stärkere Auto? Wer verdient mehr? Wer ist schöner? So wird das Spiegelbild zur Projektion der idealen Ganzheit und Vollkommenheit (vgl. Evans 2002, 146). Populistische Medien liefern imaginäre Bilder, die die Vorstellung von mehr oder weniger, schwächer oder stärker bedienen. Die Fremden, die weni ger haben und uns alles wegnehmen: Arbeit, Wohnung und Frauen. Das Ich identifiziert sich nur mit den Bildern, in denen es sich wiedererkennt. Seinesgleichen (vgl. Nasio 1999, 97).
Das Imaginäre ist die grundlegende Täuschung des Subjekts, die den Menschen in sein eigenes Spiegelbild entfremdet. Das Imaginäre ist eine Falle. Eine Verführung. Eine Blendung. Verblendung. Ein Versprechen mit hohem Preis. Das Imaginäre vermittelt die Illusion von Ganzheit, Synthese, Autonomie, Zweisamkeit und Ähnlichkeit. Das Imaginäre ist der Ort der Vorstellung, des Bildes und der Täuschung wie Enttäuschung. Bilder täuschen. Das Imaginäre lullt ein. Fremdes, Anderes wird bekämpft. Keine Bereicherung und Erweiterung im kulturellen Sinne wird neugierig erschlossen. „Illusionen empfehlen sich uns dadurch, dass sie Unlustgefühle ersparen und uns an ihrer Statt Befriedigung genießen lassen.“ (Freud 1914, 331) Mit der Konzeption der imaginären Struktur des Subjekts, entlarvte Lacan die Idee des Zentrums: Dem Subjekt wird ein Zentrum in Aussicht gestellt, mit dem es sich imaginär identifizieren kann (Ideen, Führer, Ideologien, Vorbilder). „Ein Volk, ein Reich, ein Führer“. Alles davon Abweichende wird eliminiert. Das Kollektiv stellt die Ganzheit für das instabile, mangelhafte Subjekt her. Masse ist (imaginäre) Verschmelzung: Die Individualität löst sich auf, jeder verschmilzt mit dem anderen im Hinblick auf ein Gemeinsames, das in den Rang eines Ideals erhoben wird (vgl. Freud 1921, 83). Wir (vor allem unsichere Männer) blicken auf zu den Führern, die kein Gesetz kennen, weil sie das Gesetz sind: Sie verrücken Ortstafeln. Verhängen Maulkörbe. Sperren hinter Gittern. Bauen Stacheldrahtzäune. Sie köpfen wieder etc. So fließen „fremd“ und „feindlich“ zu einem Begriff zusammen (vgl. Freud 1914, 326). Wir umgeben uns gerne mit Ähnlichem, mit Gleichgesinnten. Zuviel Fremdes, zuviel Unbekanntes, zuviel Trennendes erzeugt Angst. Das Kollektiv stellt die Ganzheit für das instabile einzelne Subjekt her. Da wir strukturelle Mangelwesen sind, haben die Spiegelungen auch die Funktion, uns zu vergrößern, zu vervollkommnen. Der Mangel schafft das Begehren. Das Geschäft mit dem Mangel. Das Begehren wiederum ist keine Beziehung zu einem Objekt, sondern die Beziehung zu einem Mangel. Was ein Objekt begehrenswert macht, ist nicht das Objekt an sich, sondern die Tatsache, dass es von einem anderen Objekt begehrt wird. Das macht das einzelne Objekt unbedeutender, rückt aber viele Objekte ins Blickfeld. Das Begehren nach Anerkennung führt dabei Regie. Symbolisierung führt aus dem Imaginären heraus, denn Begehren und Sprechen sind grundsätzlich unvereinbar. In diesem Sinne bedeutet Abwehr nach Lacan jede Nichtakzeptanz von Vorstellungen, Wahrnehmungen, Realitäten, die sich auf den Mangel (Begrenzungen) beziehen. Indem wir die Objekte durch Zeichen ersetzen, lassen wir den Anderen zum Anderen und damit zum Nicht-Ich werden. Auf diese Weise verliert das Gegenüber des Kindes die Funktion des imaginären Doppelgängers (anderer) und kann zum sprechenden Anderen werden. Daher stört die Sprache das Begehren.
Da wir jedoch gespaltene und ambivalente Subjekte sind, hassen wir uns auch im anderen. Ein Affekt, der stets mit imaginären Vorstellungen einhergeht. Die Projektion wird uns helfen, unsere Angst vor dem Fremden auf andere auszulagern und ihn all der Grausamkeiten zu bezichtigen, die unser Ideal von unserem Ich stören. So sind es die Fremden, die unter Lebensgefahr in die EU-Räume ziehen und für alles verantwortlich gemacht werden, was vor ihnen auch schon existiert hat. 2012 wurde die EU für ihren Einsatz für Frieden, Versöhnung, Demokratie und Menschenrechte in Europa mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Nun wird der Neidknopf gedrückt, was das alles kostet. Frieden und Demokratie kosten, da sie nicht im Wesen des Menschen liegen, sondern durch harte Kulturarbeit erworben und verteidigt werden müssen. Wer dafür keine „Liebesprämie“ oder „Vorteilsprämie“ kassiert, hat keinen Grund zu teilen und die eigene Welt zu erweitern. Der hat Angst noch mehr zu verlieren. Wer sich einzäunt sitzt selbst im Käfig. In dieser Erweiterung liegt die Arbeit, wenn wir uns mit Kulturwesen symbolisch und nicht imaginär identifizieren wollen.
Beate Hofstadler studierte Psychologie, Theater-, Film- und Medienwissenschaften, ist Psychoanalytikerin in freier Praxis in Wien und Uni-Lektorin in Graz. Zahlreiche Publikationen zu den Themen Psychoanalyse, Geschlecht, Qualitative Sozialforschung und Film.
Literatur
Dylan Evans: Wörterbuch der Lacanschen Psychoanalyse. Wien 2002: Turia+Kant.
Sigmund Freud: Zeitgemäßes über Krieg und Tod. GW X, 1914, 324–355.
Jacques Lacan: Das Spiegelstadium als Bildner der Ich-Funktion, wie sie uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint. In: Schriften I, Olten: Walter.
Juan-David Nasio: Sieben Hauptbegriffe der Psychoanalyse. Wien 1999: Turia+Kant.