Untergeordneter künstlerischer Transnationalismus

Die modernen Nationalstaaten entstanden im Rahmen der selbstgestellten Aufgabe, ein Set von Institutionen, ideologischen Konstruktionen und ästhetischen Allegorien zu erschaffen, die speziell dazu dienten, ihrer historischen Existenz Kohäsion zu verleihen. Museen, Universitäten und nationale Archive waren definierende Bestandteile dieser Bemühungen – und sind es bis heute. Vollkommen in diese drei Institutionen verflochten, bewegte sich die Kunstgeschichte lange Zeit zwischen der Nation (Geist, ethnische Zugehörigkeit, Sprache, Temperament, räumliche Souveränität) und dem Universellen (Weltgeschichte, Kosmopolitismus, transzendentale Ästhetik) hin und her. Bis zum Zweiten Weltkrieg bestand die wesentliche Arbeit der Kunstgeschichte in zweierlei: eine Reihe von Methoden und hermeneutischer Techniken zu entwickeln, um die nationalen künstlerischen Merkmale in Europa als eigenständige Ästhetiken zu untersuchen, und um zivilisatorische Hierarchien zwischen westlicher und nicht-westlicher Kunst zu definieren.

Es ist unmöglich zusammenzufassen, in welcher Form die Kunstgeschichte – als akademisches Feld und, mit Louis Althussers Begriff, als Staatsapparat – in den letzten sechs Jahrzehnten in Frage gestellt und neu definiert worden ist. Es kann jedenfalls festgehalten werden, dass die Parallelisierung von Territorium, natioanler Kultur und Ästhetik zwischen dem Aufkommen der Area Studies und der Comparative Studies, beide voll und ganz in die Ideologie des Kalten Krieges verwoben, und der gegenwärtigen Institutionalisierung neuer akademischer Bezeichnungen wie Global Art Studies oder World Art Studies an manchen metropolitanen Universitäten einen radikalen Wandel erfahren hat. EnthusiastInnen feiern die Ankunft des Post-Nationalen, wohingegen realistischere BeobachterInnen von einer Neuverteilung oder partiellen Ent-Nationalisierung sprechen. Tatsächlich wird den WissenschaftlerInnen und Ku- ratorInnen immer klarer, dass selbst jene Avantgarden und Neo-Avantgarden, die wir automatisch mit bestimmten, begrenzten Nationen in Verbindung bringen – russischer Konstruktivismus, italienischer Futurismus, deutscher Expressionismus, spanischer Informalismus, venezulanische kinetische Kunst, brasilianischer Neo-Konkretismus, US-amerikanischer Abstrakter Expressionismus, britische Pop Art etc. – in Wirklichkeit die Ergebnisse transnationaler Treffen, kultureller Ströme, Über-Grenzen-Hinweg-Verhandlungen, Exile, internationaler Kriege, Diasporas, migratorischer Ästhetiken, translokalen Netzwerkens und intellektueller anthropophagischer Aneignung waren.

Trotz des erwähnten Wandels sind sowohl Fachliteratur als auch konsistente Untersuchungen zu Begriffen wie künstlerischer Transnationalismus, transnationale Kunst oder transnationale Ästhetik beinahe inexistent. Im Großen und Ganzen zirkulieren diese Konzepte in Katalogen und akademischen Aufsätzen als Synonyme für migratorische Ästhetik, Diaspora Art, postnationale Kunst, dezentralisierte oder Netzwerk- Kunst. Sehr häufig wird der Begriff Transnationalismus nur benutzt, um globale, dekoloniale oder supranationale Phänomene zu beschreiben, ohne dass aber zwischen Lokalismus, Internationalismus und Globalismus differenziert würde. Paradigmatisch haben die Kuratorinnen der Ausstellung Global Feminism: New Directions in Contemporary Art (2007) ihr Projekt so beschrieben: „Global Feminisms war das erste kuratorische Projekt, das transnationale feministische Kunst zu seinem Hauptthema gemacht hat.“ (Reilly 2010 und in diesem Bildpunkt)

Das Ergebnis ist letztlich ein affirmativer Blick auf die angeblich grenzenlose, globale Kunstwelt, ein Fehlen theoretischer Konsistenz hinsichtlich des Transnationalismus und ein irreführendes Verständnis des Globalismus als mutmaßliche Aufhebung der aktiven Rolle der Nationalstaaten. Kunstbiennalen – jene Art geopolitischer Komplexe, die sich wie Pilze über die ganze Welt ausbreiten – werden systematisch als perfekte Beispiele für den postnationalen Zustand der Kunst heraufbeschworen, wobei die Tatsache ignoriert wird, dass es ohne die Unterstützung ökonomischer und politischer Akteure (Unternehmen, Banken, staatliche Betriebe, Steuererleichterungen etc.) unmöglich wäre, den pro-globalistischen Diskurs dieses künstlerischen Transnationalismus von oben aufrecht zu erhalten. Was häufig ignoriert wird, ist die Tatsache, dass die biennalisierte Kunst wichtiger Bestandteil dessen ist, was PolitikerInnen nationale Marke, soft power oder kulturelle Diplomatie nennen.

Abgesehen von der Annahme, dass er supranationale Strukturen und die internationale Zirkulation von Kapital und Arbeit beinhaltet, gibt es keinen Konsens über die Eignung des Begriffes. SoziologInnen, ÖkonomInnen, PolitikerInnen, Geschäftsleute und KunstkritikerInnen haben unterschiedliche Perspektiven darauf, was Transnationalismus sein könnte. Die Vorstellung eines künstlerischen Transnationalismus ist in zwei sich widersprechenden Richtungen aufgegriffen worden: auf der einen Seite als Feiern der Kunstwelt als vollkommen entnationalisiertes Territorium für die Zirkulation des globalen Kapitalismus, auf der anderen Seite als Anspruch darauf, dass die Kunst das globale Subjekt ist, um den neoliberalen Kapitalismus zu zerstören. Im Folgenden möchte ich letzteres fokussieren: den transnationalen Aktivismus als neue Form ästhetischen Kosmopolitismus von unten.

Wie Steven Vertovec (1999) aufgezeigt hat, lässt sich nicht nachweisen, dass der Transnationalismus aus der postmodernen Dekonstruktion der Nation entstanden ist. Wie der Begriff der Globalisierung ist auch Transnationalismus nicht neu. Mit unterschiedlichen Bedeutungen wird der Begriff seit fast hundert Jahren verwendet (vgl. Dobson/ McGlynn 2013: 5). Das bedeutet, er tauchte gemeinsam mit den historischen Avantgarden und der geopolitischen Rekonfiguration der globalen Moderne auf. Es fragt sich nun, ob Transnationalismus eine kritische und nützliche Kategorie zum besseren Verständnis heute weltweit zu Tage tretender, neuer Formen künstlerischer Infragestellungen ist. Meiner Ansicht nach ist er durchaus nützlich, insofern er das Globale unter Betonung zweier substanzieller Wirklichkeiten rekonfiguriert, die von pro-globalistischen KuratorInnen und WissenschaftlerInnen häufig ignoriert werden: die internen Widersprüche gegenwärtiger Nationalstaaten (beispielsweise in Form der Anerkennung plurinationaler Strukturen innerhalb des Staates, wie sie heute in Verfassungen wie der ekuadorianischen zum Ausdruck kommt) und der neuen internationalen Arbeitsteilung im Bereich der Kultur (beispielsweise in Form der Kalkulation des Künstlerischseins (artisticity) als kulturellem Gewinn, wie beispielsweise in der Vorstellungswelt des US-Grenzschutzes, in der KünstlerInnen mit Visum als „Fremde mit außergewöhnlichen Fähigkeiten” bezeichnet werden). Interessanterweise sind die ForscherInnen, die sich mit diesen beiden Konglomeraten des Transnationalismus beschäftigen, vor allem SozialwissenschaftlerInnen und LiteraturwissenschaftlerInnen und nicht KuratorInnen oder KunsthistorikerInnen. Saskia Sassen (2007) etwa hat die ökonomischen und die Klassenwidersprüche in dem, was sie „transnationale Eliten” oder „Transnationalismus von oben” nennt, herausgestellt. Die LiteraturwissenschaftlerInnen Françoise Lionnet und Shu-Mei Shih (2005) haben den Begriff des „untergeordneten Transnationalismus” („minor transnationalism”) vorgeschlagen für einen oppositionellen Transnationalismus von unten, der zugleich in tief greifende Abhängigkeiten mit vertikalen und neoliberalen Formen der Kapitalzirkulation und der flexiblen Arbeit verstrickt ist. Ich halte den „untergeordneten Transnationalismus” für ein produktives Konzept. Es fördert ein Verständnis von künstlerischem Transnationalismus, das mehr ist als die arithmetische Antithese zum globalen neoliberalen Kapitalismus.

Was bei all den sporadischen Beispielen meiner Ansicht nach fehlt, ist eine anspruchsvolle Theoretisierung der ethnischen, geschlechtlichen und klassenbasierten intersektionalen Strukturen der gegenwärtigen künstlerischen Felder. Ein aktuelles Buch mit dem Titel Transnationalism, activism, art (Kit Dobson/ Áine McGlynn 2013) geht diese Aufgabe mit einem mehrdimensionalen Ansatz an. Das Verdienst des Buches besteht darin, eine brauchbare Bestimmung von politisch engagiertem, transnationalem künstlerischen Aktivismus zu liefern, und sich dabei aber vor einem allzu enthusiastischen Verständnis von globalisierungskritischen Bewegungen, relationaler Ästhetik und künstlerischem Kosmopolitismus zu hüten. Es geht in dem Buch um die Spannung zwischen den gefeierten Versionen und einem eher taktischen Verständnis von dem, was ein „untergeordneter künstlerischer Transnationalismus” sein könnte. Ich möchte nun kurz zwei Beispiele dieser Dichotomie erwähnen: Nicolas Bourriauds radikante KünstlerInnen und Nikos Papastergiadis’ Renovierung des Kosmopolitismus. Damit möchte ich zeigen, dass beide Positionen trotz ihrer antagonistischen Sichtweisen wesentlich stärker gemacht werden könnten, wenn sie sich dem Transnationalismus ausdrücklicher widmen würden.

Wurzellose KünstlerInnen, behauptet Bourriaud, sind zu postavantgardistischen „RadikantInnen” geworden: Sie können unterwegs ephemere soziale Räume produzieren, egal woher sie kommen oder wer sie sind. Für ihn sind nomadische KünstlerInnen gewissermaßen die natürlichen ArchitektInnen eines postidentitären, postnationalen Raumes (vgl. Bourriaud 2009: 57). Papastergiadis dagegen insistiert, dass die treibende Kraft eines alternativen öffentlichen Raumes nicht der/die einzelne, in den Flughafen-Wartehallen lebende, nomadische KünstlerIn ist, sondern eher eine umherschweifende und dezentralisierte künstlerische Multitude. Für ihn zielt die außergewöhnliche produktive Kraft privilegierter KünstlerInnen darauf, sich in der Multitude aufzulösen und als nichttranszendentales Commonwealth neuerfunden zu werden, als eine Art meta-künstlerischer „general intellect“ (vgl. Papastergiadis 2012: 90).

Offensichtlich könnten die Positionen kaum gegensätzlicher sein. Dennoch teilen beide die Einschätzung, dass KünstlerInnen außergewöhnliche Fähigkeiten haben, um neoliberale räumliche Regime zu transformieren und alternative globale Räume zu erschaffen. Mit anderen Worten, indem sie die grenzüberschreitenden Privilegien von KünstlerInnen reklamieren, idealisieren beide Positionen die künstlerische Mobilität zur erhabenen Form globalen Wohnens.

Obwohl sie die Außergewöhnlichkeit künstlerischer Mobilität als moralischen Imperativ benutzen, um die neoliberalen Migrationsregime anzugreifen, hinterfragen beide die umstrittenen Voraussetzungen der Ausnahme-Visa nicht, derer es bedarf, um an der globalen öffentlichen Sphäre teilzuhaben und die große Gruppen nicht-künstlerischer MigrantInnen zu subalternen Positionen verdammen. Obwohl ich eher mit dem rigorosen und politisch engagierten Ansatz von Papastergiadis sympathisiere als mit der idealistischen Version von Bourriaud, halten es meiner Ansicht nach beide für eine Tatsache, dass das von nomadischen KünstlerIn – nen geschaffene, ästhetische Territorium von den geo-ästhetischen Hierarchien radikal entkoppelt ist, die im Kontext des modernen/ kolonialen Projekts des Westen entstanden sind. Beide Positionen sind die beiden Seiten derselben Medaille, sofern sie den alternativen künstlerischen Transnationalismus als exemplarischen und idealisierten, postwestlichen Raum beschreiben: als eine Art neues, anders-modernes Territorium, das sich durch unendliche Gastfreundschaft und Grenzenlosigkeit sowie durch globale, postnationale Zugehörigkeit auszeichnet.

Anstatt die räumliche Außergewöhnlichkeit globaler künstlerischer Mobilität und die Komplexitäten nationaler Allegorien in globalisierten Zeiten in Frage zu stellen, glauben beide, der dezentralisierte Zustand der künstlerischen Milieus reiche aus, um die Herstellung nicht institutionalisierter, transnationaler Korridore der Infragestellung und globaler Transformation sicherzustellen. Indem sie sich für einen autonomen kosmopolitischen Raum im Gegensatz zu kapitalistischen Existenzweisen stark machen, skizzieren beide ein intersubjektives Territorium, das sich paradoxer Weise durch die Abwesenheit einer internen ästhetischen Dimension auszeichnet. Anders als die globalisierungskritischen Bewegungen wird die transnationale künstlerische Gemeinschaft als homogenes Kollektiv wahrgenommen: mehr als subalternisierte intellektuelle Elite denn als untergeordnete künstlerische transnationale Gemeinschaft. Während der französische Philosoph Jacques Ranciere meint, eine politische Gemeinschaft ist tatsächlich eine strukturell geteilte Gemeinschaft, die nicht nur in unterschiedlichen Interessens- oder Meinungsgruppen, sondern in Bezug auf sich selbst geteilt ist” (Ranciere 2007: 133), erscheinen die Gemeinschaften in beiden Vorschlägen als von großem internen ästhe tischen Konsens geprägt. Deshalb erscheinen beide Formen von Gemeinschaft eher als kosmo-ethisch denn als kosmopolitisch, insofern der moralische Konsens der ästhetischen globalen Kunstwelt als Ersatz für einen wirklichen politischen und ästhetischen Dissens fungiert.


Joaquin Barriendos ist Professor für Latin American Cultural Studies an der Columbia University in New York.

Aus dem Englischen übersetzt von Jens Kastner.


Literatur:

Kit Dobson / Áine McGlynn (Hg.), Transnationalism, activism, art. Toronto: University of Toronto Press, 2013.

Françoise Lionnet / Shu-mei Shih (Hg.), Minor transnationalism. Durham: Duke University Press, 2005.

Nikos Papastergiadis, Cosmopolitanism and Culture. Cambridge-Malden: Polity Press, 2012. Jacques Rancière, Das Unbehagen in der Ästhetik. Wien: Passagen, 2007.

Maura Reilly, Curating Transnational Feminisms, in: Feminist Studies. Vol. 36, No. 1, Frühjahr 2010, S. 156–173, als „Transnationalen Feminismus kuratieren“ in dieser Ausgabe des Bildpunkt.

Saskia Sassen, Sociology of globalization. New York: Norton, 2007.

Steven Vertovec, Conceiving and Researching Transnationalism, in: Ethnic and Racial Studies, vol. 22, no. 2, 1999, S. 447–62.