Der soziale Hintergrund wird sehr häufig über die Familie reproduziert, doch ist dies kein Schicksal. Der Begriff „trans- Klasse“ (frz. transclasse) ist geprägt worden, um den Übergang von einer sozialen Klasse zur anderen sowie die Ursachen und Folgen eines solchen Übergangs zu fassen. Trans bezeichnet im Lateinischen den Übergang zur anderen Seite; dementsprechend meint „trans-Klasse“ jene Individuen, die individuell oder kollektiv von einer Klasse zur anderen wechseln und soziale Trennlinien auf die eine oder andere Weise überschreiten. Als trans-Klasse gilt, wer eine Veränderung seines/ihres wirtschaftlichen, kulturellen oder sozialen Kapitals erlebt hat, sei es, dass ein Arbeiterkind Unternehmer*in, anerkannte/r Intellektuelle/r, Spitzensportler*in, berühmte/r Künstler*in oder Ähnliches, sei es, dass umgekehrt ein/e Groß- oder Kleinbürger*in Arbeiter*in oder gering qualifizierte/r Angestellte/ r wird.
Der Begriff erlaubt es, auf objektive Weise einen Sachverhalt zu fassen, dem häufig mit einer axiologischen Begrifflichkeit des Aufstiegs oder der Deklassierung, des Emporkommens oder des Abstürzens begegnet wird. Der wertenden Logik des Reüssierens gilt es ebenso den Rücken zu kehren wie der verachtenden Kritik der verbürgerlichten Klassenverräter*innen; es gilt, mit Vorstellungen der Vertikalität, eines „oben“ und „unten“ zu brechen, um die Migration von einer Klasse zur anderen in ihrer Transversalität zu denken.
Der Werdegang von trans-Klasse Individuen hat nichts zu tun mit der Fiktion des self-made man. Jeder Mensch „macht“ etwas aus sich oder „macht“ sich zunichte, mit oder gegen andere Menschen, aber niemals ohne sie. Das trans-Klasse Individuum mag zwar ein Ausnahmefall sein, doch handelt es sich bei ihm nicht um ein isoliertes Individuum, sondern um ein relationales Wesen, das sich durch ein von Identifikation oder Differenzierung geprägtes Verhältnis zu seinem sozialen und familiären Milieu auszeichnet und von diesem Milieu gefördert oder abgewiesen wird. Es ist Ergebnis einer Kombination komplexer Faktoren, die sich potenzieren oder einander entgegenwirken können, und es lässt sich nicht unabhängig von den wirtschaftlichen und politischen Bedingungen begreifen, in die sich seine Geschichte einschreibt. So droht das individuelle Streben nach einer Veränderung der eigenen Klassenlage bloße Träumerei zu bleiben, wird es nicht verstärkt durch kollektive Kämpfe sowie durch finanzielle und kulturelle Förderpolitiken. Politische Institutionen und wirtschaftliche Maßnahmen sind zwar notwendig, aber nicht zureichend, um den Werdegang von trans-Klasse-Individuen zu erklären. Wie soll man erklären, dass zwei Kinder aus derselben Familie, die unter vergleichbaren Bedingungen aufgewachsen sind, sich anschließend ganz unterschiedlich entwickeln, sodass eine/r seine/ihre Ausgangsbedingungen reproduziert und der/die andere radikal mit ihnen bricht? Um das zu verstehen, muss man die feinen Unterschiede analysieren, einen allgemeinen ökonomischen und soziologischen Ansatz kombinieren mit einer Untersuchung der jeweiligen persönlichen und Familiengeschichte. Man muss das Geschlecht, die sexuelle Orientierung, den ethnischen Hintergrund, den Status innerhalb der Geschwisterhierarchie in Rechnung stellen, außerdem die bestimmende Rolle von Begegnungen und Affekten wie Stolz, Wut, dem Wunsch nach Gerechtigkeit und nach einer besseren Welt berücksichtigen.
Die Existenz von trans-Klasse-Individuen widerlegt nicht die Theorie der sozialen Reproduktion. Sie gibt allerdings Anlass, deren Zentralität für die Erklärung der gesellschaftlichen Ordnung zu überprüfen. Reproduktion und Nicht-Reproduktion sind Ausdruck gesellschaftlicher Verhältnisse, sind geprägt vom Klassenkampf und von Gesetzen, die wiederum Ausdruck von Herrschaft sind. Soziale Mobilität und Immobilität sind einer Dynamik unterschiedlicher Kräfte eingeschrieben und gehorchen Ursachen, die es zur Kenntnis zu nehmen gilt.
So ist die soziale Reproduktion nicht etwa eine Regel, deren Ausnahme die Nicht-Reproduktion wäre. Reproduktion und Nicht-Reproduktion sollten zusammen gedacht werden, ohne Zuweisung logischer oder ontologischer Priorität, selbst wenn einer der beiden Fälle historisch oder empirisch häufiger zu verzeichnen ist als der andere. Es geht in beiden Fällen darum, die ökonomischen, politischen, familiären und sozialen Zusammenhänge zu analysieren, die im Werdegang eines Individuums am Werk sind, und es gilt, die Verkettung von Kausalfaktoren zu erfassen, aus der sich erklärt, weshalb die Werdegänge von trans-Klasse Individuen von der gewöhnlichen Entwicklung abweichen. Das trans-Klasse Individuum ist nicht so sehr ein Ausnahmefall als eine Singularität, die sich aus einer Neukonfigurierung sozialer Determinanten sowie der verschiedenen Faktoren ergibt, die in der Lebensgeschichte eines/ einer jeden am Werk sind. Dazu gehören das Familienmodell, der Bildungsansatz, der Charakter der Freundschaften, die auf das Neugeborene projizierten Wünsche, die Begegnungen und Beziehungen, die sexuelle Orientierung, die sozioökonomischen Verhältnisse sowie die Gesamtheit der Institutionen und politischen Maßnahmen, die sich auf die Entwicklung eines Menschen auswirken.
Insofern führt der Begriff „trans-Klasse“ wieder die Differenz in den Klassenbegriff ein: Er lädt dazu ein, Klasse dialektisch zu denken, und nicht etwa als eine homogene, absolut bestimmende Struktur. Dabei geht es nicht darum, die Realität sozialer Klassen, von Gewalt, Herrschaft und der Macht- und Reichtumskonzentration in den Händen einer kleinen Minderheit zu bestreiten. Die soziale Klasse ist eine durchaus reelle Determinante, allerdings nur eine von mehreren: Sie kann zwar im Werdegang des Individuums eine entscheidende Rolle spielen, doch kommt ihr ebensowenig eine ontologische Priorität zu wie dem Geschlecht, der sexuellen Orientierung, dem ethnischen Hintergrund oder dem Status innerhalb der Geschwisterhierarchie.
Das trans-Klasse Individuum zeigt, dass die Menschen, trotz aller Zwänge, nicht notwendig in starre soziale Kategorien eingesperrt sind. Andererseits beweist es aber auch keineswegs die absolute Willensfreiheit, ist sein Werdegang doch weniger Ergebnis einer persönlichen Entscheidung als das eines Ursachenzusammenhangs an der Schnittstelle von Makro- und Mikrogeschichte.
Chantal Jaquet ist Philosophin und Professorin an der Université Paris 1 Panthéon-Sorbonne. Auf Deutsch erschien von ihr Zwischen den Klassen. Über die Nicht-Reproduktion sozialer Macht, Konstanz 2018 (Konstanz University Press).
Übersetzung aus dem Französischen: Max Henninger