Südliche Konstellationen: Andere Geschichten, andere Modernitäten

Die kulturelle und künstlerische Produktion in Jugoslawien zwischen 1945 und 1991 wird in der Regel im Rahmen einer osteuropäischen kunsthistorischen Erzählung interpretiert, die größtenteils nach 1989 entstanden ist. So waren beispielsweise auf der Ausstellung Magiciens de la Terre 1989 in Paris, einer der ersten Ausstellungen im Westen, die „globale Kunst” auf einer angeblich „gleichberechtigten Basis” ausstellte, nur wenige Künstler:innen aus Osteuropa vertreten.1 Einige Jahre später begannen osteuropäische Künstler:innen, Kurator:innen und Wissenschaftler:innen damit, den spezifischen Kontext der Kunst in Osteuropa zu reflektieren.2 Sie stellten auch das vorherrschende Bild des osteuropäischen Künstlers als „unvollständig entwickelter Westler” in Frage. Der Unterschied zwischen west- und osteuropäischer Kunst lag jedoch nicht in Stilen und Kanons. Der Unterschied bezog sich (neben den unterschiedlichen politischen und wirtschaftlichen Ideologien) vor allem auf das Kunstsystem, die Bedingungen der Kunstproduktion und den Zugang zu anerkannten (Kunst)Geschichten.

Was das sozialistische Jugoslawien betrifft, so gab es eine andere Geschichte, die nach den 1990er Jahren weitgehend in Vergessenheit geriet und sich von der Osteuropas deutlich unterschied. Bereits in den 1950er Jahren erkannte Jugoslawien, dass eine Balance zwischen den beiden Blöcken des Kalten Krieges ein besserer Garant für Sicherheit sein würde als ein Beitritt zu einem der Blöcke. In der Folge begann Jugoslawien, sich vorwiegend mit Ländern der Dritten Welt zu verbünden. Mit der jugoslawischen Mitgliedschaft in der Bewegung der Blockfreien Staaten (NAM) und der ersten Konferenz des Bündnisses 1961 in Belgrad wurde das Konzept der Blockfreiheit zum wichtigsten Bestandteil der Außenpolitik des Landes.

Um die Beziehungen zwischen Jugoslawien und der Dritten Welt besser zu verstehen, müssen wir fast 100 Jahre zurückgehen. Bereits in den späten 1920er Jahren wuchs in der jugoslawischen Kulturszene die Faszination für ferne Länder. Einige Jugoslawen, die in Frankreich studierten, zeigten ein besonderes Interesse an Afrika; viele von ihnen gehörten den surrealistischen Kreisen an, darunter auch Rastko Petrović, ein Avantgardeschriftsteller, Dichter und Diplomat, der 1929 nach Westafrika reiste. Sein aus dieser Reise resultierendes Buch Afrika3 war in gewisser Weise typisch für diese Zeit und reproduzierte koloniale Perspektiven und Stereotype über Afrika. Doch Petrović setzte sich auch mit der Frage auseinander, was es bedeutete, ein „europäischer Anderer” in Afrika zu sein.

Eine weitere wichtige Begegnung in Paris fand 1934 statt, als Petar Guberina, ein Doktorand der Linguistik an der Sorbonne, Aimé Césaire traf. Guberina lud Césaire noch im selben Jahr in seine Heimatstadt Šibenik ein, wo Césaire mit der Niederschrift seines berühmten epischen Gedichts Notizbuch einer Rückkehr in die Heimat begann, das eine der ersten Artikulationen des Konzepts der Negritude darstellt. Guberina schrieb das Vorwort. Léopold Senghor, der später Präsident von Senegal wurde und 1975 zu einem offiziellen Staatsbesuch nach Jugoslawien reiste, gehörte ebenfalls zu diesen Kreisen. In seiner Rede auf dem Ersten Internationalen Kongress Schwarzer Schriftsteller in Paris 19564 betonte er: „Die kulturelle Befreiung ist die unabdingbare Voraussetzung für die politische Befreiung”. Einige Jahre später veröffentlichte Guberina das Buch Following the Black African Culture, in dem viele der Gedanken von Césaire und Senghor wiederzufinden sind.

In den Schriften zahlreicher politischer Theoretiker:innen und Philosoph:innen aus den ehemaligen Kolonien in Afrika, Asien und Lateinamerika als auch in Jugoslawien wurde damals die Auffassung vertreten, dass Kultur eine Form des Widerstands gegen Unterdrückung sein kann. Diese „kämpferische Kultur” stand mit dem Slogan: „Afrikanische Kultur wird revolutionär sein oder sie wird nicht sein!” auch beim Panafrikanischen Festival von Algier 1969 im Vordergrund. Trotz der Tatsache, dass die NAM-Länder kulturell sehr unterschiedlich waren, boten die neuen Beziehungen und der Austausch einen fruchtbaren Boden für Debatten über das Verhältnis zwischen der weltweit dominanten westlichen Kultur und anderen Kulturen.5 Die Kulturpolitik der NAM verurteilte den Kulturimperialismus entschieden6 und förderte kulturelle Vielfalt und kulturelle Hybridität.

Auf der Generalversammlung der AICA (Internationale Vereinigung der Kunstkritiker) 1973 in Jugoslawien (Zagreb, Ljubljana, Belgrad, Dubrovnik) forderte der Kunstkritiker Célestin Badibanga aus Kinshasa, dass die AICA die eurozentrischen Tendenzen in der Kunst überwinden müsse. Seine Forderung nach Dekolonisierung war im Kontext der zairischen Doktrin jener Zeit, der L‘authenticité, zu verstehen.

 1985 veranstaltete die Galerie für die Kunst der blockfreien Länder in Titograd, Jugoslawien, ein Symposium mit dem Titel „Kunst und Entwicklung”, an dem mehr als 40 Vertreter aus 21 NAM-Ländern teilnahmen.7 Zehn Jahre später wurde in Jakarta anlässlich der Ausstellung Non-Aligned Nations Contemporary Art Exhibition das Seminar Unity in Diversity8 veranstaltet, das sich mit Perspektiven des Südens in der Kunst und dem Süden als Ort des Wandels und der Solidarität befasste. Die Frage der zeitgenössischen Kunst der NAM-Länder (ein „alternativer Blick auf das Verständnis zeitgenössischer Kunst”) wurde erörtert und die Idee eines universalistischen   Modernismus und einer linearen Entwicklung in der Kunst wurde zurückgewiesen.

Seit den späten 1950er Jahren fand in Jugoslawien ein vielfältiger Austausch in den Bereichen Kunst und Bildung statt. So kamen etwa Studierende aus blockfreien Ländern zum Studium nach Jugoslawien. 1977 wurde ein Museum für afrikanische Kunst in Belgrad eröffnet. Das Museum der Revolution der Völker und Nationalitäten Jugoslawiens (heute Museum Jugoslawiens) wurde zum Verwalter einer großen Anzahl von Artefakten – Geschenke, die Präsident Tito auf seinen Reisen in den blockfreien Ländern erhielt oder die ihm von ausländischen Politikern überreicht wurden. Die Internationale Grafikbiennale in Ljubljana wurde bereits in den 1950er Jahren international dafür bekannt, dass sie „im Grunde alles, die ganze Welt” zeigte, insbesondere nach der ersten Konferenz der blockfreien Länder im Jahr 1961. An der Biennale 1963 nahmen mehr als 43 Länder teil (10 aus der NAM), und an der 14. Biennale 1981 beteiligten sich mehr als 60 Länder (25 aus der NAM). Eine Kunstinstitution in Jugoslawien wurde direkt unter der Schirmherrschaft der NAM gegründet. Die Josip-Broz-Tito-Galerie für Kunst der blockfreien Länder wurde 1984 in Titograd9 mit dem Ziel eröffnet, Kunst und Kultur der blockfreien Länder und der Entwicklungsländer zu sammeln, zu bewahren und auszustellen.

Heute gilt die Bewegung der Blockfreien Staaten politisch gesehen mehr oder weniger als Anachronismus. Das Schicksal dieser einzigartigen Konstellation ist wohl eines der am wenigsten verstandenen Phänomene unserer Zeit, auch wenn feststeht, dass ihr Verschwinden von der politischen Weltbühne direkt mit dem Aufstieg und Triumph des Neoliberalismus, insbesondere nach 1989, verbunden ist. Aber der von der NAM inspirierte Internationalismus hatte eine bedeutende Kraft – wahrscheinlich eines der größten Potenziale der Bewegung, das allerdings heute weitgehend in Vergessenheit geraten ist. Die Ausstellung Southern Constellations: the Poetics of the Non-Aligned, für die dieser Text ursprünglich geschrieben wurde, schlug vor, dem Erbe der Blockfreiheit eine neue Chance zu geben. Könnte es eine blockfreie Gegenwart geben? Und wenn ja, wie würde sie aussehen?


1 Marina Abramović, Erik Bulatov, Braco Dimitrijević, Ilya Kabakov, Karel Malich, Krzysztof Wodiczko.
2 Siehe Boris Groys, Back from the Future, in: Third Text, Vol. 17: 4 (2003). Groys warnt, dass diejenigen, die sich weigern, sich selbst zu kontextualisieren, von jemand anderem in Kontext gesetzt werden und dann Gefahr laufen, sich selbst nicht mehr zu erkennen.
3 Rastko Petrović, Afrika (Belgrad: Prosveta, 1955).
4 Mitorganisiert von Guberina.
5 Für eine tiefere Analyse dieser Beziehung siehe Rasheed Araeen, Our Bauhaus Others’ Mudhouse, in: Third Text, Vol. 3:6 (1989).
6 Siehe z.B. Präsident Titos Rede auf der 6. Konferenz der blockfreien Länder in Havanna, Kuba, 1979, in der er vom „entschlossenen Kampf für die Entkolonialisierung im Bereich der Kultur“ sprach. Auf der 5. Konferenz in Colombo 1976 brachte Libyen einen Resolutionsentwurf ein, in dem es darlegte, wie das Land infolge des Kolonialismus seines „menschlichen Kulturerbes“ beraubt wurde.
7 Galerija umjetnosti nesvrstanih zemalja, Osnovna dokumentacija, Titograd, 17. 12. 1981.
8 Die Mitschriften einiger der Diskussionen des Seminars sind zugänglich unter: Geeta Kapur and Vivan Sundaram Archive at Asia Art Archive: https://aaa.org.hk/en/collection/search/archive/another-life-the-digitised-personalarchive-of-geeta-kapur-and-vivan-sundaram-geeta-kapur-manuscripts-of-essays-and-lectures/object/the-recentdevelopments-of-southern-contemporary-art-avant-garde-art-practice-in-the-emerging-context.
9 Heute Podgorica, Montenegro. Die Sammlung ist heute Teil des Museums für zeitgenössische Kunst in Montenegro.


Dies ist eine gekürzte und überarbeitete -Fassung von Southern Constellations: Other Histories, Other Modernities, veröffentlicht in Southern Constellations: The Poetics of the Non-Aligned, Moderna galerija: Ljubljana, 2019, S. 9–23. Weitere Informationen über die Ausstellungsreihe: www.mg-lj.si/en/visit/3645/southern-constellations-series. Gekürzt und aus dem Englischen übersetzt von Sophie Schasiepen.


Bojana Piškur arbeitet als Kuratorin an der Moderna galerija in Ljubljana. Sie arbeitet zu jugoslawischen und postjugoslawischen Kontexten und der Bewegung der Blockfreien Staaten, insbesondere in Bezug auf Kunst und Kultur. Sie beschäftigt sich auch mit der Frage, wie historische emanzipatorische Ideen in heutige Situationen übersetzt und umgesetzt werden können.