Sonnenuntergang auf Lampedusa

Blickregime der Migration in der Kunst

Visuelle Kunst, die sich mit dem Thema Migration befasst, steht vor einem eigenen Darstellungsproblem: Angesichts der stereotypen Bildformeln, mit denen die Massenmedien häufig Migration visualisieren, stellt sich die Frage, wie die Kunst mit diesen Mustern umgehen kann.[1] Welche Spielräume lassen die etablierten Blickregime, die Ordnungen der Sichtbarkeit und Sichtbarmachung von Migration, überhaupt künstlerischen Darstellungen? Inwiefern erscheinen eigentlich Bilder, die Migrant/-innen von ihrer Mobilitätsform machen, in den Massenmedien? Erscheinen Migrant/-innen überhaupt als Akteure/-innen von Bildern oder nur als amorphe Massen und Flüchtlingsströme?

Zahlreiche zeitgenössische künstlerische Arbeiten greifen das Bildrepertoire der Massenmedien auf, führen es vor und wenden es um. Vor allem mediale Bilder, die das Aufeinanderprallen von Flüchtlingen und Tourist/-innen zeigen, durch das die idyllische Urlaubskulisse gestört wird, dienen der Kunst dazu, das Spannungsverhältnis beider Mobilitätsformen und deren gegensätzlichen Blickregime zu reflektieren. Mit den folgenden Beispielen von Sven Johne und Isaac Julian sollen einige Schlaglichter auf diesen Kontext geworfen werden.

Der Konzeptkünstler Sven Johne greift die Sonnenuntergangsmotivik touristischer Bilder auf. Durch den Bildtitel Lampedusa Island, Mediterranean Sea, 125 Kilometers from Africa, 220 to Europe, August 21st, 2009, 8:10 PM werden Medienberichte über Flüchtlinge, die vom afrikanischen Kontinent aus die italienische Insel Lampedusa zu erreichen suchen, aufgerufen. Das Bild wird durch diese Assoziationen unheimlich. Die sengende Sonne scheint viel zu heiß, sie verbrennt gleichsam das Fotopapier und bekommt etwas Zerstörerisches. Man wird geradezu geblendet. In einer inhaltlichen Aufladung durch die Betrachter/-innen erinnern die Funkmasten an Beobachtungs- und Überwachungsstationen an der Außengrenze Europas. Johne arbeitet in seinen Bildern häufig mit Medienbildern und deren Verhältnis zur Bildunterschrift. Dabei geht es um die Wirkungsmacht von Bildern. Auf dem genannten Bild ist eigentlich nur ein Sonnenuntergang zu sehen, erst mit dem Vorwissen über Lampedusa kommt dem Bild eine über das scheinbar Idyllische hinausweisende Bedeutung zu. Ähnlich funktionieren auch die Bildserien der Badenden und Hotel Lampedusa. So sieht man in der einen, elfteiligen Serie Fotos von Badenden im glasklaren Meer. Durch die im Paratext vorgenommene Verortung der Bilder auf Lampedusa kontrastiert der Badespaß sofort mit dem Wissen um die gestrandeten Flüchtlinge. Die Badenden erscheinen im Gegenlicht ganz schwarz, und wenn eine Frau im Wasser liegt, erinnert sie an die ertrunkenen Flüchtlinge. Gerade Medienbilder solcher Urlaubsorte an den Grenzen Europas inszenieren immer wieder, wie nah sich Tourismus und Migration kommen: Strandende Flüchtlingsboote aus Afrika an den Küsten der Urlaubsorte konfrontieren die Touristinnen und Touristen, aber auch die breitere Öffentlichkeit in Europa, mit jener anderen Form des Reisens. Während der Tourismus mit der Verheißung grenzenloser Mobilität verbunden ist, zeigt sich gerade an den Flüchtlingsbooten die Macht von Grenzziehungen und Schranken. Diese Migrantinnen und Migranten werden so zu illegalen Einwander/-innen gemacht, und Migration wird auf diese Weise kriminalisiert. Dort, wo sich sonst die Touristinnen und Touristen in der Sonne bräunen, kommen Flüchtlinge erschöpft an Land. In oft kleinen, überfüllten Booten setzen sie sich extremen Gefahren aus, um Europa zu erreichen. Solche Bilder gehören zum Standardrepertoire der Reportagen zu diesem Thema.

Thematisiert wird bei Johne die Frage, wie Bilder symbolische Macht generieren, so Jens Kastner.[2] Johnes Bilder erzeugen eine Unsicherheit gegenüber dem Gesehenen. Sie rekurrieren auf die Effekte von Wissen. Kastner verweist in diesem Zusammenhang auf Kaja Silvermans Begriff des „Vorgesehenen“, „Darstellungsparameter, die sich fast unmittelbar aufdrängen“. Damit brächten sie die Routine des Sehens durch das Zitat dieser Muster zum Ausdruck und zugleich durcheinander. [3]

Die Bilder, die Johne in den drei Lampedusa-Serien zeigt, verbinden dokumentarische und touristische Bildkonventionen. Die touristische Szene der Badenden wird durch den in Schreibmaschinenschrift daruntergesetzten Text mit genauer Datums- und Ortangabe konterkariert. Hito Steyerl hat in ihrem Buch Die Farbe der Wahrheit. Dokumentarismen im Kunstfeld die Wirkmächtigkeit der dokumentarischen Form aufgezeigt.[4] Sie stellt heraus, dass das dokumentarische Bild, das eigentlich die Realität abbilden und damit beherrschbar machen soll, diese Wirklichkeit gleichzeitig auch genießbar macht. Durch die touristische Form von Johnes Bildern, die, wie gesagt, durch die Bildunterschrift dokumentarisch inszeniert sind, wird dieser Genuss geradezu angekurbelt, aber auch gebrochen.

Auch Johnes Serie Traumhotels, Insel Lampedusa inszeniert einen touristischen Ort par excellence. Das Hotel ist ein Transitort, der durch Reise und Tourismus erst hervorgebracht worden ist. Johne fotografiert die Innenräume der Hotels mit Meerblick. Die Bilder vermitteln eine angenehme, sommerlich warme Urlaubsstimmung. Der Text, der die Bilder begleitet, erzählt einen Traum: „Im Hafen die Fischer auf ihren Booten, sie scherzten mit uns Touristen, und einer sprach voller Inbrunst: ,du schönes, blaues Weltenmeer, du bist ein Ort der Träume!‘ […] In dieser Nacht träumte ich, dass in der Brandung hunderte Körper lagen, dicht an dicht, reglos, eine Menschenkolonie. Frühmorgens lief ich zum Strand: da war nichts.“[5]

„Traumhotel“ wird hier wörtlich verstanden. Die Relation von Realität und Fiktion beginnt zu changieren. Die Bedeutungen der Schiffe, des Meeres und des Hotels verschieben sich.

Ähnliche Assoziationen werden in Isaac Juliens Filminstallation Western Union: Small Boats (2007) aufgerufen, wenn etwa Fischerboote eingeblendet werden, die zunächst an idyllische touristische Motive erinnern. Brüchig wird dieser Eindruck aber, wenn gestrandete, zerborstene Holzboote zu sehen sind. Auf der Tonebene sind schrille Geräusche mit Morse-Codes verbunden, und es sind Radiofetzen auf Englisch und Italienisch zu hören, in denen von Flüchtlingen die Rede ist. Die Medienberichterstattung findet sich damit auf der Tonebene, manifestiert sich aber auch auf der Bildebene: Zitiert werden Bilder der kleinen Holzboote mit halb verdursteten „schwarzen“ Männern, Bilder von mit Silberfolie bedeckten Leichen am Strand, an dem im Hintergrund die Touristen zu sehen sind etc.
Die Ansichten sind kontrastiv gegeneinander montiert und werden auf diese Weise emotional aufgeladen. Bereits die Eingangssequenz legt diesen Eindruck nahe, wenn der Blick aus einer Art Felshöhle durch einen vergitterten Torbogen auf das blaue Meer gelenkt wird. Eine „schwarze“ Frau, die Schauspielerin Vanessa Myrie,[6] die auch schon in anderen Arbeiten Juliens aufgetreten ist, schreitet aus dem Tor hinaus ins Helle. Begleitet wird die Szene vom intensiven Gesang Oumou Sangarés. Besonders beklemmend sind die Szenen im Film, in denen eine Person ertrinkt. Dabei werden die Bilder des Ertrinkens im Wasser mit Bildern eines sich auf dem Boden eines prunkvollen Palastes windenden „schwarzen“ Mannes gegenmontiert, sodass auch hier der Eindruck des Ertrinkens weitergeführt wird.

Das Meer und die Boote werden auf diese Weise zu Metaphern, die auf die „Middle Passage“ verweisen, die Zwangsverschiffung versklavter Afrikaner/-innen im transatlantischen Handelsverkehr vom 15. bis ins späte 19. Jahrhundert, die auch als „gewaltsame Migration“ [7] gefasst wird. Der Theoretiker Paul Gilroy zeichnet mit seinem Konzept des Black Atlantic den Weg der „Middle Passage“ nach und kontextualisiert diese traumatische Dislozierung mit der erinnerten Geschichte der modernen afrikanischen Diaspora.[8] Der „Schwarze Atlantik“ bildet auf diese Weise gleichsam einen imaginierten kulturellen Raum, der auf Verbreitungsprozesse von „black culture“ verweist. In der Ausgrenzung und dem Rassismus sind die kolonialen Strukturen des Black Atlantic immer noch gegenwärtig. Das Prinzip des Black Atlantic „macht auf die Komplexität der kolonialen Prozesse und eine seiner unvorhergesehenen und unbeabsichtigten Konsequenzen aufmerksam, e[s] geht unseren Vorstellungen von Kultur gegen den Strich. E[s] führt uns nicht zu dem Land, in dem wir diesen speziellen Boden finden, in dem, wie uns gesagt wird, ‚nationale Kulturen‘ keimen, sondern zum Meer und der Seefahrt, auf dem und über den Atlantischen Ozean, wodurch eher fließende als starre ‚hybride‘ Kulturen ins Leben gerufen werden“, [9] so Gilroy.

Dieses Konzept hat Gilroy in der Ausstellung Black Atlantic im Haus der Kulturen der Welt in Berlin (2004) auch visuell umgesetzt, indem er Künstler/-innen wie Isaac Julien einlud, sich mit dem Thema zu befassen.[10] Juliens Arbeit Western Union: Small Boats spielt in besonderer Weise auf Verortungen an. Durch kontrastive Gegenüberstellung werden die verschiedenen Figuren zu „Typen“ in der Tradition von Erdteil-Allegorien: Die „schwarze” Frau oder die Männer in den Booten etwa repräsentieren dabei Afrika, während eine „weiße, blonde“ Frau in einem prunkvollen Palast für Europa steht.[11] Der Schauplatz ist der Ballsaal des Palazzo Gangi-Valguarnera in Palermo, der bereits in Luchino Viscontis Film Der Leopard (F/I 1963) mit einem Tanzball opulent in Szene gesetzt wurde. Mit diesem Part schreibt Julien die in Viscontis Film erzählte italienische Aristokratengeschichte des 19. Jahrhunderts fort, indem er ihr eine koloniale Dimension hinzufügt.[12] Julien zeigt in Großaufnahmen der Ausstattung, etwa des monumentalen Leoparden auf den Bodenfliesen, wie sehr auch die historischen Monumente mit der kolonialen Geschichte verwoben sind. Der Film verbindet auf diese Weise Vergangenheit und Gegenwart. Er arbeitet dabei deutlich mit ethnischen Differenzsetzungen durch Hautfarben. Diese historisch wirksamen Antinomien werden im Verlauf des Films immer mehr aufgelöst: „The race politics of the work become increasingly complicated“,[13] so Jennifer Gonzáles; die „schwarze“ Frau zum Beispiel bewegt sich scheinbar als außenstehende Beobachterin zwischen den Welten und die Tänzer repräsentieren in der zweiten Hälfte des Films als ethnisch gemischte Gruppe ein modernes multiethnisches Italien.

Ganz am Ende des Films wird der Bogen wieder zurück zu einer Strandszene gespannt: Statt der Fischer erscheinen nun Touristengruppen, die im Meer baden. Dabei werden ihnen kontrastiv die mit Silberfolie zugedeckten Leichen der Flüchtlinge gegenübergestellt, womit wieder Medienbilder zitiert werden. Dokumentarischer Realismus und poetische Bilder werden im Film verknüpft, sodass sich beide Ebenen verschränken und deren Konstruktionscharakter deutlich wird. Mit dieser Überschreitung des Dokumentarischen irritiert Julien etablierte Bildordnungen der Migration. Julien selbst betont: „The work is also a critique of what I see as a kind of rather narrow repertoire of representation strategies for visualising this subject. I have always been attracted to the idea of transgressing the boundaries, of utilising these contradictory aesthetic approaches with certain subject matter.“[14] 


Alexandra Karentzos ist Professorin für Mode und Ästhetik an der Technischen Universität Darmstadt und Mitherausgeberin der Zeitschrift Querformat. Zeitgenössisches. Kunst. Populärkultur. Sie lebt in Frankfurt am Main.


[1] Vgl. dazu ausführlich Alexandra Karentzos: Nicht-Sichtbarkeit. Bildermacht und Migration, in: Burcu Dogramaci (Hg.): Migration und künstlerische Produktion, Bielefeld: transcript 2013, S. 141–158.

[2] Jens Kastner: Irritationen des Bildregimes. Kapitalismus und Scheitern in den Arbeiten Sven Johnes, in: Sven Johne. Berichte zwischen Morgen und Grauen, Ausst.-Kat. Frankfurter Kunstverein, Berlin 2010, S. 118–128, hier S. 124.

[3] Ebd.

[4] Vgl. Hito Steyerl: Die Farbe der Wahrheit. Dokumentarismen im Kunstfeld, Wien: turia + kant 2008.

[5] Der Text ist Bestandteil des Kunstwerks.

[6] Vgl. die ausführliche Beschreibung der Arbeit von Jennifer Gonzáles: Sea Dreams: Isaac Julien’s Western Union: Small Boats, in: Saloni Mathur (Hg.): The Migrant’s Time: Rethinking Art History and Diaspora, New Haven/London 2011, S. 116–129.

[7] Hans-Georg Knopp und Peter C. Seel: Vorwort, in: Der Black Atlantic, Ausst.-Kat. Haus der Kulturen der Welt, Berlin, hg. vom Haus der Kulturen der Welt in Zusammenarbeit mit Tina Campt und Paul Gilroy, Berlin 2004, S. 6–9, hier S. 7.

[8] Vgl. Paul Gilroy: Der Black Atlantic, in: Ausst.-Kat. Berlin 2004 (wie 8), S. 12–32. Vgl. dazu auch Sérgio Costa: Vom Nordatlantik zum „Black Atlantic“. Postkoloniale Konfigurationen und Paradoxien transnationaler Politik, Bielefeld 2007, v.a. S. 127ff.

[9] Gilroy 2004 (wie Anm. 22), S. 13.

[10] Julien war in der Ausstellung mit dem Film True North (2004) vertreten, der eine Serie von filmischen Untersuchungen zum Thema der Meerwege und transnationalen Grenzüberschreitungen eröffnet, dessen dritter Teil Western Union: Small Boats neben Fantôme Afrique (2005) und 10 000 Waves (2010) ist.

[11] Vgl. dazu das noch nicht publizierte Dissertationsprojekt von Katrin Hunsicker (Oldenburg): Weibliche Allegorien in kolonialen und postkolonialen Europa-Bildern.

[12] Vgl. Gonzáles 2011 (wie Anm. 7), S. 125.

[13] Ebd., S. 122 und 125.

[14] „I am putting the fire underneath people“. Isaac Julien in conversation with Katarzyna Bojarska, in: www.obieg.pl/english/12332 (Stand: 10. 1. 2014)