Politik des Sehens

Kunst, das ist im besten (oder einzigen) Fall eine Politik des Sehens. Das Zugespitzte und Apodiktische dieses Satzes wird in Kauf genommen, um deutlich zu machen, dass eine solche Politik des Sehens nicht zwangsläufig die Form „politischer Kunst“ annehmen muss, sondern in einem weiteren und zugleich engeren Sinn „Kunst“ genannt werden kann. Natürlich sind sämtliche bisher gefallenen Begriffe hochgradig erläuterungsbedürftig. „Kunst“, was soll das noch heißen im Zeichen all der Praktiken und Diskurse, der Positionen und Expansionen der Kunst? Warum „Sehen“ und nicht eine andere Sinnes-, Verstandes-, oder Gefühlsleistung (wie Tasten, Erkennen, Empfinden)? Und was könnte „Politik“ in diesem Zusammenhang bedeuten?

Als Gegenwartskunst (contemporary art) ist Kunst eine endlos differenzierte und zugleich normativ wirksame Formation international vernetzter Institutionen und Praktiken, die vehement auf das Feld des Politischen, Ökonomischen und Sozialen drängt. Zugleich Plattform neoliberaler Ideologie wie deren, mal indolenter, mal erbitterter, Widersacher kann Gegenwartskunst als Milieu, als materiell-diskursiver Raum sowohl zur Verhinderungs- wie zur Ermöglichungsbedingung erwähnter Politik des Sehens werden. Sehen wiederum ist hier als Name für den Komplex zu verstehen, den die Praktiken und Gegenstände des Visuellen formieren, wobei diese Praktiken und Gegenstände andere menschliche Sinne und Tätigkeiten als jene des Auges umfassen können. Politik ist das Medium, in dem und mit dem die Verteilung von Macht und Zugängen zu Sichtbarkeit im Gemeinwesen stattfindet. Politik des Sehens zielt damit auf die Veränderung und Redefinition dessen, was gesehen und gesagt werden kann, wobei die ästhetischen Formen, mit denen diese Veränderung angestrebt wird, von Fall zu Fall neu zur Disposition stehen und ihre Beziehungen zur Kunst aushandeln müssen. Als Intervention in eine jeweilige Ordnung der Wahrnehmung, die reguliert, was den Sinneseindrücken und -erfahrungen zugänglich ist oder nicht, transformiert die Politik des Sehens notwendig die Bedingungen, unter denen sich Wahrnehmen, Sprechen und Denken ereignen. Tut sie dies als (oder auch nur im Kontext der) Kunst, also indem sie sich, wie affirmativ oder kritisch auch immer, auf die (keineswegs universellen) Institutionen, Traditionen und Geltungsansprüche dessen bezieht, was „Kunst“ genannt wird, ergeben sich besondere Voraussetzungen, etwa in Sachen des Rechts und allgemeiner in solchen der Kultur. Als Kunst kann eine Handlung eine spezifische Aufmerksamkeit erhalten, ebenso wie ihr, von Rechtssystem zu Rechtssystem unterschieden, Legitimität zuerkannt oder auch abgesprochen werden mag.

In diesen Grenzregionen von Ästhetik und Recht sind viele Praktiken und Projekte der Politik des Sehens angesiedelt. Die Komplexität, mit der die Akteur_innen (bisweilen auch Aktivist_ innen) dabei zu rechnen haben, ist nicht nur aufgrund der Entwicklung der Medientechnologien und insbesondere der durchgreifenden Digitalisierung der Bildräume der Gegenwart hoch. In den vergangenen Jahrzehnten, insbesondere seit den Tagen postmoderner Repräsentationskritik und einflussreicher aktivistischer Bildpolitiken wie den in den USA der 1980er und 1990er Jahre von Netzwerken wie Act Up (AIDS Coalition to Unleash Power) entwickelten AIDS-Kam- pagnen, hat die theoretische Beschäftigung mit ästhetischen Strategien politischer Intervention stetig zugenommen. Angesichts der Bildsprachen und der Medienpraktiken der politischen Bewegungen der letzten Jahre (Arabischer Frühling, Occupy Wall Street, Umbrella Movement in Hong Kong, Maidan- Demonstrationen usw.) ist die Prägung der Akteur_innen durch die Geschichte von Semiotik und semiotic warfare, durch Cultural Studies und Culture Jamming unverkennbar. Politische Anliegen visuell zu markieren wurde dabei zu einer Methode und Technologie, die sich alle Seiten des Kampfes um Sichtbarkeit und Sagbarkeit zu eigen machten. Die Politik des Sehens ist dabei nicht zuletzt eine Politik, die das Recht zu Sehen einfordert, indem sie das Feld der Sichtbarkeit reorganisiert, oft auf sehr buchstäbliche Weise.

Als Bree Newsome, eine dreißigjährige afroamerikanische Aktivistin, am 27. Juni 2015 in Bergsteigerausrüstung den Fahnenmast vor dem Landtagsgebäude des US-Bundestaats South Carolina in Columbia emporkletterte, um die dort flatternde Konföderiertenflagge abzuhängen, handelte sie als Künstlerin wie als Antirassistin und Feministin im staatlich kontrollierten, aber zugleich von nichtstaatlichen Agenturen beobachteten (fotografierten, gefilmten) öffentlichen Raum. Die Aktion endete vorläufig und erwartbar mit der Verhaftung von Newsome durch die örtliche Polizei. Doch nahm Newsomes Eingriff in die Ordnung der Zeichen und Symbole einer rassistischen Staatlichkeit, die sich auf Bundesebene von Debatten, die nach den der Ermordung von neun Afroamerikaner_innen in einer Kirche in Charleston und den Unruhen in Ferguson weltweit geführt wurden, damit eigentlich auch erst seinen Lauf. Der historische und tagespolitische Moment, in dem Newsome ihre – alle Merkmale einer sorgfältig inszenierten Performance aufweisende – Aktion durchführte, sorgte in den USA für eine umfassende Berichterstattung und stellte der vielseitigen Frau, die auf ihrer Website als „Writer – Director – Producer – Singer – Songwriter – Activist – Consultant – Speaker“ firmiert, eine Vielzahl von Bühnen zur Verfügung. „Ich habe die Flagge nicht nur in dem Widerstand gegen jene, die meine Vorfahren im Süden der USA versklavt haben, entfernt, sondern auch im Widerstand gegen die Unterdrückung der schwarzen Bevölkerung, die weltweit bis 2015 andauert, einschließlich der fortlaufenden ethnischen Säuberung in der Dominikanischen Republik.“ Dies war nur eines der vielen Zitate, die Newsome nach ihrer Aktion veröffentlichen ließ. Mit ihren Kommentaren und Erläuterungen kontextualisierte sie ihren Eingriff in die visuelle Kultur des Rassismus in den USA als Angriff auf das „Banner rassistischer Einschüchterung und Angst“, dessen Popularität immer dann zunehme, wenn schwarze Amerika ner_in nen ökonomisch und politisch Erfolg zu haben scheinen. Die aus der Sicht weißer Rassist_innen skandalöse Inbesitznahme ihres ikoni schen Identitätsmarkers durch eine schwarze Frau, die im Netz sofort tausendfach in Fotografien und Videos, aber auch in Superheldinnen-Illustrationen und anderen visuellen Fortschreibungen verbreitet wurde, ist auch die Realisierung eines lang gehegten kollektiven Traums vom Ende des segregationistischen Regimes, eine Provokation, die wie eine Erlösung wirkte, auch wenn die Südstaatenflagge von den staatlichen Stellen gleich wieder gehisst wurde (und zwar nicht auf halbmast). Dass Newsome dafür nicht nur die Gesetze brach, die bestimmte Symbole der Nation wie eben deren Flagge schützen, sondern zugleich die himmelschreiende Illegitimität offenbarte, die in der Funktion solcher nationalen (beziehungsweise hier: separatistischen) Symbolik zur Aufrechterhaltung und Durchsetzung von institutionellem Rassismus spielt, macht ihre Politik des Sehens nicht automatisch zu Kunst. Aber indem Bree Newsome ihre Position als Kulturproduzentin nicht verleugnet, sondern Medienkompetenz als integralen Bestandteil ihres Aktivismus behandelt, entstehen Bilder, deren widerständige Autorität sich nicht zuletzt dem Wissen um die Arbeit der Bilder, das in sie eingegangen ist, verdankt.


Tom Holert ist Kunsthistoriker, Kulturwissenschaftler und Künstler in Berlin.