Es sind die elenden Bedingungen, die Menschen dazu bringen, ihr Zuhause zu verlassen, zu flüchten. Im vorherrschenden Diskurs wird dies zumeist als erzwungenes und somit unfreiwilliges Weggehen gedeutet. Paradigmatisch dafür war die Figur des politischen Flüchtlings, der durch Repression und Verfolgung, oder – neuerdings – durch die Folgen des globalen Klimawandels gezwungen ist, seiner Heimat den Rücken zuzukehren. Den Gegenpol dazu stellte der sogenannte „Wirtschaftsflüchtling“ dar, der lediglich auszieht, um seine materielle Lage zu verbessern. Auch in den Gesetzeswerken der imperialen, nordwestlichen Staaten findet sich diese Gegenüberstellung von legitimen politischen und illegitimen sozialen Fluchtgründen. Gegen diese Unterscheidung wird oft eine moralische Kritik vorgebracht: Niemand verlässt freiwillig seine Heimat, und deshalb ist Verständnis und Hilfeleistung angebracht, unabhängig ob der bzw. die Betreffende aus wirtschaftlichen oder politischen Gründen migriert ist. Dieser Diskurs verstrickt sich aber leicht in eine paternalistische Haltung, deren (a)politische Konsequenzen wir im paternalistischen Handeln der Caritas gegenüber der Refugee-Bewegung hautnah miterleben mussten.
Es gibt aber auch eine andere Erzählung vom Weg-Gehen: die des biblischen Exodus, des Auszugs der IsraelitInnen aus der ägyptischen Knechtschaft – ins gelobte Land. Hier wird die Migration als befreiende Bewegung beschrieben, als kollektiver Ausund Aufbruch in ein neues, besseres Leben. Auch die postoperaistisch inspirierte These der „Autonomie der Migration“ steht in dieser Tradition, wenn sie sich der positivistischen Migrationsanalyse entlang von „Push-“ und „Pullfaktoren“ entzieht und die Bewegung der Migration als organisierte, vernetzte und somit kol- lektiv-politische beschreibt. MigrantInnen werden in dieser Perspektive als handelnde Subjekte verstanden, ihre Bewegungen als eigensinnige Ströme sozialer Mobilität.
Die Verwendung der Figur des Exodus beschränkt sich jedoch nicht alleine auf die antirassistische Theorie. Auch in der Entwicklung von Strategien der sozialrevolutionären Linken wurde sie in Stellung gebracht. Die postoperatistische Theorie findet darin einen brauchbaren Ansatz für eine Theorie der Befreiung, der sich den antiquierten modernen Dichotomien von Reform und Revolution entzieht. Er zielt vielmehr – im Anschluss der Theorie der „Fluchtlinien“ bei Deleuze und Guattari – auf Formen des Widerstands ab, die nicht auf eine gewaltvolle Konfrontation mit Staat und Kapital („auf gleicher Augenhöhe“) abzielen, sondern auf ein kreatives Sich-Entziehen, einer Verbindung von kollektiven Akten der Verweigerung mit jenen der Neuerschaffung nichtkapitalistischer sozialer Verhältnisse. Die Figur des Exodus taugt so als strategischer Horizont radikaler sozialer Bewegungen, deren Ziel nicht die Reform der bestehenden Ordnung, sondern ihre Überwindung ist. Dabei geht es allerdings nicht um die Neuauflage der Dichotomie von Reform und Revolution, sondern um eine dritte Position: Eine grundsätzliche Veränderung der Gesellschaftsstruktur – insofern ist Exodus also durchaus revolutionär –, die jedoch im Weg der Veränderung, also in der Bewegung, im Prozess des Exodus selbst bereits Aspekte einer befreiten Gesellschaft antizipiert.
Paolo Virno (2010) verweist auf jenes wichtige Moment des Exodus: dass er den Widerständigen eine neue, produktive Perspektive eröffnet, sich den durch die herrschaftliche Verfasstheit von Gesellschaften vorgegebenen Dichotomien zu verweigern, nämlich sich entweder mit der Herrschaft abzufinden oder sie frontal anzugreifen. Beide Varianten sind jedoch konstitutiv an die Struktur der Herrschaft, an ihr Terrain gebunden. Der Exodus aber entzieht dieser Herrschaft im Weg-Gehen gleichsam Daseinsberechtigung, er verändert das Terrain der Auseinandersetzung und eröffnet den Gehenden neue Räume konstitutierender Macht. Vielleicht sollte der Exodus gleichermaßen als – nicht ausschließende – Gegenfigur zu jener der Hegemonie in Stellung gebracht werden: Während diese die Transformation existierender Institutionen und Deutungsmuster ins Zentrum rückt, positioniert sich jener inmitten sozialer Prozesse, die unmittelbar auf eine andere Vergesellschaftung abzielen und mit derartigen Formen experimentieren. Der Exodus verschreibt sich einem Prozess direkter Veränderung in Raum und Zeit. Dabei folgt er einer widerständigen Seinsweise, die – in Anlehnung an die ZapatistInnen – John Holloway mit „Zwei Zeiten der Revolution“ beschrieben hat, nämlich einer Gleichzeitigkeit von „Ya Basta!“ und „Wir gehen langsam, denn wir haben einen weiten Weg zu gehen“; einerseits also der unmittelbaren Notwendigkeit des Bruchs mit der gegenwärtigen ausbeuterischen Ordnung, und andererseits – und gleichzeitig – das Wissen um die Notwendigkeit des geduldigen Aufbaus neuer, herrschaftsfreier Strukturen und Institutionen. Diese Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen ist dem Exodus durch all die Jahre gemein geblieben: Im Weg-Gehen neue Strukturen und Lebensweisen auszubilden, um ein Reich der Freiheit und Gleichheit zu erlangen.
In postoperaistischer Perspektive lässt sich, wieder mit Virno, der Begriff des Exodus mit einer radikalen Kapitalismus- aber auch Staatskritik verbinden: Die postfordistischen Arbeitsverhältnisse rekurrieren auf das, was Marx als „General Intellect“ beschrieb: eine Entwicklungsstufe der Vergesellschaftung gesellschaftlicher Arbeit(skraft), die durch die Fähigkeit zu Kooperation und Kommunikation bestimmt ist. In kapitalistischen Ausbeutungsverhältnissen bedeutet dies die Inwertsetzung sämtlicher Dimensionen dieser Arbeitskraft (also z.B. auch ihres Körpers). Es zeichnet sich jedoch auch eine neue Perspektive der Befreiung ab, nämlich die des Exodus als produktives Desertieren aus ausbeuterischen Verhältnissen. Das allgemein gewordene Wissen des „General Intellekt“ der Multitude befähigt diese zur Schaffung einer neuen, demokratischen Öffentlichkeit, die nicht mehr auf das vereinheitlichende Zwangskorsett des bürgerlichen Staates angewiesen ist. Von den aufständischen ZapatistInnen über die „globalisierungskritische“ Bewegung bis hin zu Occupy und dem arabischen Frühling zeigten sich derartige Formen nichtstaatlicher konstituierender Macht. Ob sie in der Lage sein werden, dauerhaften demokratischen Ersatz für die immer autoritärer werdenden Regimes des globalen Austeritätskapitalismus zu erschaffen, wird sich zeigen. Bereits im biblischen Exodus war die Gründung des Bundes ein zentrales Element; und auch in dieser Hinsicht, nämlich der „Organisationsfrage“, bleibt das zweite Buch Mose brandaktuell.
Martin Birkner ist linker Theoretiker in Wien und im Südburgenland
Zum Weiterlesen:
Paolo Virno: Exodus, Turia + Kant, Wien 2010.
Michael Walzer: Exodus und Revolution, Fischer, Frankfurt a.M. 1995.