Weil der Staat ein „kolonial-kapitalistisches Verhältnis“[1] ist, waren und sind alle antisystemischen Konzepte der Machtübernahme in den Staatsapparaten zum Scheitern verurteilt. Der uruguayische Sozialwissenschaftler und Journalist Raúl Zibechi stellt diese These in seinem aktuellen Buch Descolonizar la rebeldía („Die Rebellion dekolonisieren“) auf. Hat er dabei einerseits die Geschichte der antikolonialen Befreiungsbewegungen vor Augen, geht es ihm andererseits vor allem um die sozialen Kämpfe der Gegenwart. Eine Eigenmacht sollten sie entwickeln, eine Autonomie im Verständnis des Philosophen Cornelius Castoriadis, als Praxis und Utopie. Diese Autonomie ist lokal gedacht, aber auch transnationalistisch. Der Transnationalismus entspringt dabei letztlich auch einer historischen Erfahrung in Lateinamerika: Die Demokratisierung, schreibt Zibechi in Anlehnung an den dekolonialistischen Theoretiker Aníbal Quijano, die die Entwicklung des europäischen Nationalstaates geprägt hat, fand in der Geschichte seiner lateinamerikanischen Pendants nicht statt. Der Staat war und ist bis heute Garant für die Ausgrenzung von Indigenen und Schwarzen. Weil es diese staatlich erzeugte wie abgesicherte Diskriminierung gibt, geht es bei der Dekolonisierung also auch um Teilhabe, um Partizipation, um Zugang zu Ressourcen und Macht über Definitionen und Körper. Während als transnational heute vor allem Konzernstrategien und migrantische Lebensläufe beschrieben werden, bezeichnet ein transnationalistischer Anspruch etwas anderes: den bewussten Kampf um die Überwindung nationalstaatlicher Denk- und Exklusionsmuster. Allerdings gibt es wohlmeinende Stimmen, die auch dem transnationalen Marktgeschehen und der Migration Effekte zuschreiben, die die Macht des Nationalstaates untergraben. Sie kommen einerseits aus Kunstkreisen, andererseits aus der Migrationsforschung.
Bildende Kunst und ökonomischer Markt seien gar keine An- tipoden, insistieren etwa Autorinnen wie Isabelle Graw und Nina Tessa Zahner. Immer schon und erst recht in Zeiten der Globalisierung sind künstlerische Arbeiten demnach „von Markterfordernissen durchzogen“[2]. Bei Zahner kulminiert diese Beschreibung schließlich in der affirmativen Behauptung, es gäbe so etwas wie die „demokratisierenden Potenziale eines erhöhten Pluralismus in der Kunst, die der Kunstmarkt mit sich bringt.“[3] Wie von selbst schafft der Markt hier offenbar im globalen Maßstab, was der Staat – glaubt man der dekolonalistischen Kritik – nicht gewährleisten konnte. Umso besser, könnte man meinen, dass es immer mehr Kunst-Biennalen gibt. Denn auf der Biennale als „Plattform für Globalkunst“ (Sabine B. Vogel) und Mittel für politische Kommunikation, können gerade kritische Positionen – trotz Nationalitäten-Pavillons – ihre Wirkung entfalten. Gerade die kritische Haltung in der Kunst, von Gustave Courbet bis Andrea Fraser (laut Graw) ohnehin ein preissteigerndes Attribut, schaffe ein demokratiepolitisches sowie ökologisches Problembewusstsein, das „ohne Beachtung von Grenzen und Territorien im Raum steht.“[4]
Ähnlich euphorisch werden Klassifizierungsleistungen des Nationalstaates auch in manchen migrationspolitischen Kontexten für irrelevant erklärt. Der als „Autonomie der Migration“ beschriebene „Drang zur Mobilität auf der Basis von sozialen Netzwerken“[5] wird in guter Absicht als eigensinniges und wirkmächtiges Korrektiv gegenüber staatlichen Grenzkontrollen gewertet. Die Not, aus der Migration oft entsteht, wird – in plausibler Ablehnung einer Opfererzählung – in den Hintergrund gerückt. Ohne auf besondere Anlässe und Intentionen einzugehen, wird Migration selbst zur subversiven Aktion gegen die staatliche Einteilung der Welt erklärt. So wird etwa im neuen Magazin Movements. Journal für kritische Migrationsund Grenzregimeforschung Migration „als soziale Bewegung“[6] beschrieben, ohne dass bestimmte, etwa antistaatliche Mobilisierungen hier noch ein Thema wären.
Diese sehr unterschiedlichen Diskurse um das globalisierte Kunstfeld und die globale Migration haben eines gemeinsam: Sie unterstellen, dass bestimmte transnationale Settings subversive Effekte haben, also auch transnationalistisch sind (d.h. die nationalstaatliche Ordnung der Welt untergraben). Damit unterschätzen sie aber die anhaltende Macht der Nationalstaaten, die soziale Wirklichkeit zu konturieren und zu gestalten. Nur Nationalstaaten verleihen BürgerInnenschaft, der Staat garantiert als Legitimationsinstanz für Eheschließungen und Geldtransfers, und solange es einen deutschen Pavillon auf der Biennale in Venedig gibt, (mindestens) solange weiß der Nationalstaat auch kulturelle Produktionen für seine Identitätspolitik zu nutzen wie Fußballländerspiele.
Um dies zu unterlaufen, bedarf es schon expliziter Deligitimierungsarbeit. Die ist insbesondere im Rahmen anarchistischer Bewegungen geleistet worden, die im Nationalstaat nie eine legitime politische Organisationsform gesehen haben. Deren Geschichte ist unbedingt zu kolportieren, wenn es um die Formulierung eines neuen Transnationalismus geht. Dass in ihr auch antikoloniale Aspekte eine – wenn auch randständige – Rolle gespielt haben, hat der Historiker Benedict Anderson mit den Lebensläufen anarchistischer und befreiungsbewegter Intellektueller am Ende des 19. Jahrhunderts aufgezeigt.[7] Zugleich bedeutet dieses Zurateziehen der anarchistischen Geschichte nicht, die Fallstricke und Dilemmata zu leugnen, denen libertäre Politik immer ausgesetzt ist. Wie etwa Diskriminierungen wirkungsvoll verhindert und Rechte installiert werden können, ist oft nicht genügend ausgearbeitet, geschweige denn erprobt worden. Ob deshalb aber, um soziale Errungenschaften wie die Gleichstellung indigener Bevölkerungsgruppen zu garantieren, doch wieder auf den Staat gesetzt werden muss, wie andere dekolonialistische TheoretikerInnen – etwa Catherine Walsh[8] – es im Gegensatz zu Zibechi tun, wäre die Frage.
Oskar Lubin ist Anarchist und Autor von Triple A. Anarchismus – Aktivismus – Allianzen. Kleine Streitschrift für ein Upgrading. Münster: edition assembalge 2013.
[1] Raúl Zibech, Descolonizar la rebeldía. (Des)colonialismo del pensamiento crítico y de las prácticas emancipatorias. Malaga: Baladre y Zambras 2014, S. 26.
[2] Isabelle Graw, „Gute Kunst, schlechter Markt?“ In: FAZ, 30. 4. 2015, S. 13.
[3] Nina Tessa Zahner, Die neuen Regeln der Kunst. Andy Warhol und der Umbau des Kunstbetriebs im 20. Jahrhundert. Frankfurt am Main / New York 2006, S. 289.
[4] Sabine B. Vogel, Biennalen – Kunst im Weltformat. Wien / New York: Springer 2010, S. 122.
[5] Manuela Bojadzijev, Die windige Internationale. Rassismus und Kämpfe der Migration. Münster: Westfälisches Dampfboot 2008, S. 147.
[6] Redaktion Movements, „Editorial“, in: Movements, Nr. 1, Jg. 1, http://movements-journal.org/issues/01.grenzregime/01.editorial.html
[7] Benedict Anderson, Under Threee Flags. Anarchism and the Anti-Colonial Imagination. London / New York: Verso 2005.
[8] Vgl. Catherine Walsh, „Political-epistemic insurgengy, social movements and the refounding of the state.“ In: Mabel Moraña und Bret Gustafson (Hg.): Rethinking Intellectuals in Latin America. Madrid: Iboamericana / Vervuert 2010, S. 199–211.