Michel Foucaults Überlegungen zum Verhältnis von Sicherheit und Freiheit erweisen sich als eine originelle Betrachtung des liberalen Dilemmas. Dieses besteht darin, in einem unglücklichen Bewusstsein zwischen der Freiheit und der Sicherheit hin- und herzuschwanken. Der Sicherheit kommt dabei offenkundig ein leichtes Übergewicht zu. Insgesamt erlaubt die liberale Problematik Prognosen von der Art, dass die Freiheit zunehmen und die Sicherheit zurückdrängen, oder dass um gekehrt die Sicherheit, der Ausnahmezustand, der autoritäre Staat die Überhand gewinnen würde.
Auch Foucault scheint an manchen Stellen vom Ausnahmezustand her zu denken und die Ansicht zu vertreten, dass unter liberalen Bedingungen diese Tendenz zur Sicherheit übermächtig wird und sich über das Gesetz stellt, das die Freiheit garantiert. In seinen ausführlichen Analysen zur Entstehung der liberalen Regierungskunst macht er hingegen deutlich, dass Sicherheit und Freiheit keineswegs derart polar angeordnet sind, dass sie einander äußerlich in einen Zielkonflikt geraten können; vielmehr erweisen sie sich beide als Elemente einer einzigen Regierungstechnologie, die durch ein Mehr an Sicherheit Freiheit erzeugt, und die sich auf die Ereignishaftigkeit der Freiheit stützt, um eine zukunftssichernde, lang – fristige Form der Regierung der Gesellschaft zu gewährleisten.
Was sich also aus der Binnensicht der diskursiven Praxis wie ein Gegensatz von Freiheit versus Sicherheit ausnimmt, ist aus der Perspektive einer Analyse der Macht ein Prozess der Feinabstimmung. Die Freiheiten müssen angestachelt werden, aber doch in einer Weise, dass sie innerhalb eines Korridors von Normalverteilungen bleiben – dazu dient eine Politik der Sicherheit; umgekehrt würde letztere, wäre sie wirklich dominant, gerade die Streuungsbreite derart verringern, dass aus einer Normalitätskurve eine Normalitätsgerade würde. Eine derartige Homogenisierung, ein derartiger Konformismus wird in der liberalen Perspektive mit Statik und tendenziell mit Totalitarismus gleichgesetzt. Das hat nicht nur historische Gründe, die im Kampf des Bürgertums gegen den Absolutismus, sondern mehr noch Gründe, die in der Dynamik kapitalistischer Märkte liegen: Würde sich Sicherheit derart unilinear durchsetzen, dann liefe das darauf hinaus, dass sich allein die Freiheit einer bestimmten Interessensgruppe behaupten würde. Alle anderen bürgerlichen Gruppen wären mit Wettbewerbsnachteilen am Markt konfrontiert oder müssten Steuern zahlen, ohne Gegenleistungen zu erhalten. Deswegen verlangt die Freiheit nicht nur eine Beschränkung der Sicherheit, sondern auch eine Anreizung der Freiheit. Dabei handelt es sich also selbst um eine Normalitätskurve – mit allerdings manchmal heftigen Ausschlägen nach unten und oben: dem autoritären Staat oder den Revolten. Ohne dass es einen „weltlichen Vatikan“ gäbe, der die Normalitätsentwicklung lenken würde, gibt es doch zahlreiche Instanzen und Institutionen, die sich um die Regulierung des Verlaufs dieser globalen Normalitätskurve bemühen. Foucault nennt die Trilaterale Kommission, es gibt andere: die G8-Treffen, den UNO-Sicherheitsrat, die Nato und ihre jährliche Sicherheitskonferenz, die internationale Vernetzung der Geheimdienste, die jährlichen Treffen von Wirtschaftsführer*innen und Politiker*innen in Davos, die OECD-Statistikabteilungen und staatlichen Statistikbehörden, die Markt- und Meinungsforschungsinstitute, die Ratingagenturen und Unternehmensberatungen und viele weitere staatliche, parastaatliche und zivilgesellschaftliche Zusammenhänge. Sie alle lenken nicht die Vielzahl der Einzelereignisse – das wäre eine wahnhafte Sicherheitsmentalität –, aber sie bemühen sich, dass die Ereignisse nicht zu weit streuen und die Normalitätskurve durch die Schwankungen hindurch als solchen Bestand hat – mit anderen Worten, dass für diese Form der Macht- und Herrschaftsausübung Erwartungssicherheit besteht.
Es lässt sich fragen, ob die Dynamik von Freiheit und Sicherheit beide nicht doch auch immer wieder zwangsläufig so weit auseinandertreten lässt, dass sie auf eine organische Krise der liberalen Regierungskunst hinweisen. Dies würde bedeuten, dass es zu einer Denormalisierung, einer Krise der Normalverteilungen kommt: Volatilität der Märkte, Unvorhersehbarkeit der Konsumentennachfrage, Unberechenbarkeit der Wähler*innen, Krise der Erziehung, Krise der Familie und der Geschlechterverhältnisse, Klimakatastrophe, Terrorismus – also zahlreiche beschworene Phänomene, die sich in einer Weise verdichten, dass sie sich nicht länger als Risiken kalkulieren, dass Wahrscheinlichkeiten sich nicht mehr mit der gewohnten Sicherheit erwarten lassen. Die kapitalistische Gesellschaftsformation kann jedoch nur dann fortexistieren, wenn sie eine Normalisierungsgesellschaft ist, in der sich viele kleine und größere Abweichungen, Störungen, Turbulenzen zu einem idealen Durchschnitt ausgleichen. Sie gerät also in eine Krise, wenn sich dieser Durchschnitt nicht wiederum in einem wahrscheinlichen Zeitraum, einem durchschnittlichen Zeitrhythmus herstellt. Es spricht jedoch einiges dafür, dass der Neoliberalismus – auf dessen Reaktualisierung Foucault so zeitgemäß reagierte – nach einer kritischen Überprüfung seiner Interventionsinstrumente gerade von dem strategischen Ziel einer Herstellung und Regulierung stabiler Durchschnitte abgerückt ist, also die Modalitäten der Normalitätskurve selbst verschieben will. Es handelt sich um eine neue Form der Regierung des Staates, die diesen, um seine Regierbarkeit wiederherzustellen, aus vielen Verantwortlichkeiten (im Bereich der öffentlichen Infrastrukturen, der sozialen Sicherung, der technischen Entwicklungen) herauszieht. Es werden gleichzeitig solche staatlichen Interventionen forciert, die ein neues Maß an Freiheit erzeugen sollen, also den Individuen positive und negative Anreize geben, auf sich gestellt die eigene Freiheit zu optimieren und zu vergrößern. Regiert wird mit der Kontingenz der Freiheit. Die zwangsläufige Folge dieses Regierens mit der Freiheit ist – dies ergibt sich aus Foucaults Analyse des Sicherheitsdispositivs – eine Reaktion, die nach einem Mehr an Sicherheit verlangt.
Alex Demirović ist Politikwissenschaftler und Senior Fellow der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Berlin. Er gehört der Assoziation für kritische Gesellschaftsforschung an und ist Autor zahlreicher Bücher zur Staats- und Demokratietheorie sowie zur Kritischen Theorie.
Dieser Text ist Teil eines längeren Beitrages in: Patricia Purtschert, Katrin Meyer, Yves Winter (Hg.): Gouvernementalität und Sicherheit. Zeitdiagnostische Beiträge im Anschluss an Foucault. Bielefeld 2008: Transcript Verlag.
Vgl. Alex Demirović: Herrschaft durch Kontingenz. In: Hans-Jürgen Bieling u.a. (Hg.): Flexibler Kapitalismus. Analysen – Kritik – Politische Praxis. Hamburg 2001: VSA , S. 208–224.