Lebensmodell Diaspora

Warum sprechen wir eigentlich von Diaspora? Warum nicht von Parallelgesellschaft, Multikulturalismus, Exil, Migration oder Integration? All diese Begriffe sind Master-Kategorien, wie Saskia Sassen das nennt, Kategorien, deren unmittelbare, einleuchtende Eindeutigkeit die Verschiebungen und Veränderungen, die wir in den Blick bekommen wollen, verdecken.

„Parallelgesellschaft“ (einmal abgesehen von ihrer politischen Konnotation) rückt ebenso wie „Exil“ die Abgrenzung ins Zentrum und verkennt, dass es immer auch – egal wie abgeschottet eine Gemeinschaft leben mag – eine Interaktion mit der umgebenden Lebensrealität gibt. „Migration“ und „Integration“ erfassen zwar Bewegungen, bleiben aber völlig einseitig. Und „Multikulturalismus“ befriedigt zwar unsere Sehnsucht nach dem Echten und Ursprünglichen, aber um den Preis, die/ den Fremde/ n zum/ zur TrägerIn einer authentischen und eindeutigen Identität zu machen. Gegen diese Eindeutigkeiten und Einseitigkeiten brauchte es also einen Begriff, der dem widerspricht, was ein Begriff leisten soll: Es brauchte einen uneindeutigen Begriff. Genau dieses Paradoxon erfüllt „Diaspora“. Das ist die konzeptionelle Erklärung für diese Wahl.

Der Begriff „Diaspora“ wurde in den letzten zwanzig Jahren aus der bedrängenden 2000-jährigen Geschichte des Judentums befreit und damit auch von seinen negativen Konnotationen wie Zerstreuung, Vertreibung, Exil erlöst. Die Umcodierung hat dem Begriff eine unglaubliche Karriere ermöglicht. In seiner positiven Version hat er es zum Lebensmodell gebracht. Ein Lebensmodell, das viele Minderheiten für sich reklamieren. Etliche AutorInnen beklagen die Ent-Territorialisierung des Begriffs, die damit einhergeht, als „Begriffsinflation“. Die Schwammigkeit, die damit einhergeht, ist aber auch erhellend: Die Vermehrung ist eine produktive Uneindeutigkeit. Sie macht den Begriff Diaspora zum Symptom einer Entwicklung.

Wenn Gruppen sich als Minderheiten bezeichnen, dann setzt das nicht nur voraus, dass es eine Mehrheit gibt, es setzt auch voraus, dass beide Seiten – Mehrheit wie Minderheit – intakte Gruppierungen sind. Wenn immer mehr Gruppen für sich den Diaspora- Status reklamieren, wenn Diasporas inflationär werden, dann zeigt das genau jene Veränderung an, um die es mir hier geht: eine Veränderung, in der Art, wie Gruppierungen heute funktionieren, eine Veränderung, die langsam alle Gruppen, Mehrheiten wie Minderheiten, erfasst und affiziert, eine Veränderung in der Art der Bindung.

Bisher war unsere konstitutive Spaltung, die existentielle De-Zentrierung des Subjekts, wie sie Freud und Lacan namhaft machten, gerade durch unsere Identität zugedeckt. Genau darin bestand ja die ideologische Konstruktion jeder Identität: dass sie unsere grundlegende Spaltung „schließt“, indem sie uns eine imaginäre Ganzheit angeboten hat. Identität war also die Illusion, man könne sich sehr wohl angehören. Und genau darin bestand das Versprechen der Gemeinschaft: Man könne ihr voll und ganz angehören. Mehr noch, Gemeinschaft suggerierte: Man kann nur dann mit sich zusammenfallen, wenn man Teil der Gemeinschaft ist. Nur in der, graduell verschiedenen, Entäußerung an die Gemeinschaft erhält man sich als Ganzes zurück. Denn eine Gemeinschaft versorgt ihre Mitglieder mit einem Herren-Signifikanten, der alle unsere Teile zusammenfügt. Kurzum – Gruppen erzeugten die Ideologie der vollen Identität, die als solche, als Ideologie, funktioniert hat. (Nur weil etwas ideologisch ist, heißt das ja nicht, dass es nicht funktioniert.)

Ich schreibe das in der Vergangenheitsform, weil sich eben dieses Verhältnis verschoben hat. Nicht weil wir heute so aufgeklärt wären – nichts ist so aufklärungsresistent wie eine Identität. Auch nicht, weil wir heute so fragmentiert wären oder weil es keine funktionierenden Gruppen mehr gäbe. Die vollen Identitäten, die vollen Zugehörigkeiten zu einer Gemeinschaft sind deshalb Vergangenheit, weil heute die Spaltung Eingang in die Identität, Eingang in die ideologische Konstruktion selber gefunden hat. Ob dies ein zivilisatorischer Fortschritt ist, bleibt offen. Das, was die Illusion der vollen Zugehörigkeit im alten Sinne heute verhindert ist jedoch nicht Vernunft, Erkenntnis oder Einsicht, sondern schlicht deren Pluralisierung, die Vielzahl von „vollen“ Identitäten, die heute nebeneinander existieren.

„Jeder diasporisch Lebende”, so Gayatri Spivak, „fühlt sich zu einem anderen Ort hingezogen.“ Das heißt, jede diasporische Gemeinschaft, egal wie offen oder abgeschottet sie lebt, ist immer von einer tiefen Spaltung durchzogen: räumlich zwischen einem Hier und Dort, emotional zwischen einem unmittelbaren Erleben und einer externen Bindung. Diaspora ist der Schlüsselbegriff für heutige Gruppenbildungs- und Identifikationsprozesse: Weil eine Diaspora immer eine gespaltene Gemeinschaft ist, egal wie eng sie sein mag. Es ist die Erfahrung einer Spaltung.

Nicht aus einer romantisierenden Perspektive, nicht als Sehnsuchtsort, auch nicht als Anmaßung einer Leiderfahrung wird Diaspora zum Paradigma, sondern weil unsere gesamte Gesellschaft nach dem Modell der Spaltung und nicht mehr nach dem Modell der vollen Identitäten funktioniert.

Aber was ist mit der Leitkultur, mit dem Abendland, mit der Rede von „unseren Leuten“? All diese Beschwörungen widerlegen diese Ausführungen nicht, sondern bestätigen sie vielmehr indirekt. Sie sind Teil einer Rekonstruktion. Eine solche braucht es erst nach einem Verlust. Gerade weil sich die nationale Gemeinschaft, die nationale Bindung verändert hat, bedarf es überhaut einer Rekonstruktion. Gerade weil die vollen nationalen, religiösen, kulturellen Identitäten nicht mehr greifen, kommt es zu einer massiven Gegenbewegung. Eine solche findet sich bei den Rechten auf beiden Seiten: bei jenen der Mehrheits- und bei jenen der Minderheitsgesellschaft.

Die Rekonstruktion kann jedoch nicht mehr volle, sondern nur geschlossene Identitäten herstellen. Das ist nicht dasselbe. War die volle Identität vorwiegend durch einen gemeinsamen, positiven Bezug auf ein Zentrum gekennzeichnet, so ist die geschlossene Identität nach Verlust des Zentrums nur noch qua Ausschluss zu haben. Bei den Minderheitengruppen heißt diese Strategie: Abschottung, niemand darf hinaus. In der Mehrheitsgesellschaft bedeutet das: keiner darf herein. So soll etwa die Staatsbürgerschaft wieder mit ihrer alten Bedeutung aufgeladen werden, indem man sie anderen verweigert. Nur durch Exklusion lässt sich eine ganze Zugehörigkeit noch herstellen.

Diese aggressive Identitätspolitik ist eine Verneinung – eine Leugnung der Realität, eine Abwehr jener Spaltung, die man als „Diasporisierung der Gesellschaft“ bezeichnen könnte. In diesem Sinne ist die Wahl der Terminus „Diaspora“ Programm einer drängenden politischen Agenda.


Isolde Charim arbeitet als freie Publizistin und wissenschaftliche Kuratorin in Wien.

Dieser Text ist eine stark gekürzte Version der Einleitung zu Isolde Charim / Gertraud Auer Borea (Hg.): Lebensmodell Diaspora. Über moderne Nomaden. Bielefeld 2012 (transcript Verlag).