Eine Weile wollten die linksliberalen Bürger*innen es so aussehen lassen, als wäre in der Nazizeit nur eines nicht entartet gewesen: die Kunst. Das könnte sogar ein Topos der Nachkriegsliteratur sein. Wer ein westdeutsches Gymnasium durchlaufen hat, erinnert sich an den verfolgten, edlen Künstler in der Deutschstunde (1968) von Siegfried Lenz und an die verfolgte, edle Skulptur à la Barlach in Sansibar (1957) von Alfred Andersch.
Nach weiteren Enthüllungen über den nachgerade an Céline erinnernden Nazismus von Emil Nolde – Vorbild für Lenzens Künstlerfigur – oder nach einer neuerlichen Erinnerung an Ernst Barlachs Gelöbnis seiner Treue zum Führer (1934), sollte es mit dieser bürgerlichen Vorstellung an sich vorbei sein. Und doch ist sie im Fernsehfilm, einem langsamen Medium, in dem die vorgestrigen Wert-Entscheidungen der Bourgeoisie wie Mücken im Bernstein fixiert sind, noch immer zu bestaunen.
In westdeutschen Fernsehfilmen spielen die Jüdinnen und Juden stets konzertreif Geige oder Klavier, während die Nazi-Schergen Goethe mit Schiller verwechseln und in blinder Wut Skulpturen zerschmettern. Das steht in einem auffälligen Kontrast zum Nazibild etwa des französischen Spielfilms. In Jean Renoirs This Land Is Mine (Dies ist mein Land; 1943) oder in Jean-Pierre Melvilles Le silence de la mer (Das Schweigen des Meeres; 1947) sind die Nazis von unheimlicher Kultiviertheit. Früh schlug sich hier die Erkenntnis von George Steiner und anderen nieder, bevor die Menschen ins Gas getrieben wurden, sei noch rasch Mozarts Klaviertrio in G-Dur (KV 564) zuendegespielt worden. Bis in deutsche Fernsehredaktionen ist diese Erkenntnis aber noch nicht vorgedrungen.
Ein Beispiel gibt Deutschstunde (2019), Christian Schwochows preisgekrönte, hanekehaft düstere Verfilmung von Lenzens Roman. Vermittelt von einem labilen Jungen (laut Regisseur der Typus des späteren RAF-Terroristen) stehen sich dicht vorm Wattenmeer zwei Kontrahenten gegenüber: der pflichtversessene Nazi Jepsen (Ulrich Noethen) und der humanistische Maler Nansen (Tobias Moretti). Die beiden sollen Jugendfreunde gewesen sein, aber mögen sie auch dereinst zusammen gesungen haben, singen sie nun nicht mehr dasselbe Lied.
Polizist Jepsen ist der proletarisch-kleinbürgerliche Typ, der kadavergehorsam den Weisungen von oben folgt und als ein Abraham vom Watt einen seiner Söhne opfert. In seinem spartanischen Haus führt er ein Leben nach alter Väter Sitte. Maler Nansen dagegen ist ein Bourgeois, als solcher Freigeist, der selbst vor Aktmalerei nicht zurückschreckt und standesgemäß mit einer schöngeistigen Dame vermählt ist, die nah an der Neurose gebaut hat. In seinem großzügigen Landhaus erschallt die Oper vom Grammophon.
Bekannt ist, woher der Polizist seine Einkünfte und Befehle bezieht. Es treffen ja pünktlich die zu erwartenden Männer im Ledermantel ein. Wovon der Maler lebt, ist unbekannt. Er scheint viel Zeit zu haben; von Galerist*innen, Sammler*innen, Professor*innen, Journalist*innen wird er nicht belästigt. Feiert er Geburtstag, kommen nur die Dörfler*innen. Mag also das Porträt des Polizisten einigermaßen plausibel sein, ist das des Malers Inbegriff der bürgerlichen Lüge: „Wir besitzen Privilegien, weil wir besser sind (und nicht umgekehrt). Wir sind dem Schönen, Wahren, Guten hingegeben und sollten vermöge dieser geistigen Autorität das Land beherrschen, woran wir leider vorübergehend von ein paar nazistischen (oder kommunistischen) Plebejer*innen gehindert werden.“
Kunst diente lange als Unterlage dieser Lüge, allerdings eher die Kunstkennerschaft als die Kunstausübung. Die aus dem Dienst von Kirche und Staat entlassenen Kunstschaffenden müssen sich am Markt behaupten, was der Mehrzahl misslingt. Dieser Jammer ist keine Option für die Bürgerinnen und Bürger, die sich deshalb für Berufe in Industrie, Bank oder Verwaltung entscheiden. Aber noch bis 1989 ließ der Ausbeuter, der auf sich hielt, seinen Salon mit geschmackvollen Ölschinken ausstatten. Das scheint vorbei zu sein, und Bourdieu können wir nicht mehr fragen, warum.
An die Stelle der Kunst tritt nun zweierlei: beim konservativen Bürgertum der Erfolg in seinem nackten Ausdruck als Porsche oder Golfplatz, beim liberalen Bürgertum das humanistische Bekenntnis. Das erste kennen wir schon, das zweite ist neu: Seit 1989 hat sich eine Bourgeoisie gebildet, die Trägerin von Parteien wie der SPD oder La République en marche sowie natürlich der Grünen aller Länder ist und die neoliberale Reformen mit progressiver Rhetorik durchkämpft. Bekenntnisse zu Europa, Weltoffenheit, Klimaschutz verbinden sich bei dieser Schicht mit dem Wunsch nach Modernisierung und Digitalisierung. „Soziale Gerechtigkeit“ artikuliert sie, mangels Interesse, nicht.
Zweifellos steht diese von Akademiker*innen, Technokrat*innen, Unternehmer*innen gebildete Klasse noch immer der „Kultur“ nah, aber es ist nur mehr eine Kultur als Andeutung und Fluidum. Kunst als Tradition spielt für sie keine Rolle mehr. Sie kann keinen Giorgione von einem Tizian unterscheiden und stellt sich auch keine Haegue Yang in den Hausflur. So hat Kunst ihren Wert als Unterscheidung vom Proleten verloren. Einer der vielen Gründe dafür ist, dass selbst ein abstraktes Kunstwerk konkreter und widersprüchlicher ist als irgendein Bekenntnis zur Menschheit. Kunst, die ihren monetären Wert wahren will, sollte sich jetzt in Humanismus auflösen.
Stefan Ripplinger ist freier Autor und Mitglied von Verdi. Zuletzt erschienen von ihm die Essaybände Kommunistische Kunst und Mallarmés Menge (beide 2019).