Das Konzept der linken Melancholie ist mit einer ontologischen Definition der Linken verbunden. Normalerweise wird die Linke in topologischen Begriffen beschrieben: eine Position in einem politischen Raum (Biden links von Trump). Bei einer ontologischen Definition geht es um Ideen und Werte: die Linke als Projekt zur Veränderung der Welt, d. h. Selbstemanzipation und Befreiung von unten; nicht nur Freiheit und Demokratie, sondern auch Gleichheit zwischen den Geschlechtern und rassialisierten Gruppen, soziale Gerechtigkeit usw. Um die Welt zu verändern, braucht es Ideen, Werte, Strategien, Organisationen; es braucht Handlungsfähigkeit. Wir können die Welt nicht verändern, ohne Utopien, Affekte, Wünsche, Leidenschaften, Emotionen und ein Gefühl der Brüderlichkeit zu mobilisieren, das durch kollektives Handeln entsteht. Ich will damit sagen, dass es die linke Melancholie schon immer gegeben hat: Sie gehört zur Empfindungsstruktur der Linken (um mit Raymond Williams zu sprechen), als eine ihrer Emotionen. Die Kultur der Linken besteht sowohl aus Enthusiasmus als auch aus Melancholie; sie besteht aus Brüderlichkeit, Leichtigkeit und Freude an der Gemeinschaft, am kollektiven Handeln, aber auch aus Trauer und Schmerz über die erlittenen Niederlagen, die verpassten Chancen, die verlorenen Schlachten, die verlorenen Genoss*innen usw.
Für mich ist linke Melancholie weder eine Pathologie, eine zu heilende Krankheit der Linken, von der man sich erholen sollte, noch eine Therapie, ein Verhalten oder eine Geisteshaltung, die man verordnen kann. Melancholie ist nicht notwendigerweise gleichbedeutend mit Passivität und Resignation, und sie ist keineswegs unvereinbar mit Handlungsfähigkeit. Nach Spinoza (Ethik) sind Affekte und Vernunft nicht unvereinbar: Pathos und Logos können zusammengehen. Aber wir sollten zwischen verschiedenen Arten von Melancholie unterscheiden. Es gibt eine Melancholie, die Empörung und Revolte auslöst, eine Melancholie, die eine Voraussetzung für eine Revolution ist; und es gibt eine Melancholie, die aus einer Niederlage entsteht, die Teil einer Kultur der Niederlage ist.
Die erste Art der Melancholie kommt in Sergej Eisensteins Panzerkreuzer Potemkin (1926) gut zum Ausdruck, der den Übergang von Trauer und Verlust zu Kampf und kollektivem Handeln zeigt: die Revolution von 1905 in Russland. Georges Didi-Huberman fasst diesen Wandel in Panzerkreuzer Potemkin in einem Slogan zusammen: vom weinenden Volk zum bewaffneten Volk (du peuples en larmes au peuples en armes); diese Melancholie bewaffnet die Tränen.
Aber es gibt auch eine linke Melancholie, die aus der Niederlage erwächst; nicht die Melancholie, die eine Revolte auslöst, sondern eine Melancholie, die durch Verlust, Zusammenbruch und Niedergang entsteht. Diese Melancholie zu beschreiben, bedeutet, über einen streng psychoanalytischen Ansatz hinauszugehen, den Siegmund Freud in seinem berühmten Aufsatz Trauer und Melancholie (1915) kodifiziert hat. Nach Freud ist die Melancholie eine unvollendete, unmögliche Trauer. Während ein erfolgreicher Trauerprozess es den Hinterbliebenen ermöglicht, ihre Gefühle und Energien auf andere Objekte oder Wesen zu übertragen, will das melancholische Subjekt sein verlorenes Liebesobjekt nicht aufgeben. Es „genießt“ dieses Leiden. Die Melancholie ist ein pathologischer Zustand permanenter Trauer. Diese Definition erscheint mir restriktiv und eng, da sie die Melancholie auf Passivität und Resignation reduziert. Viele Formen aktiver, nicht-resignierter Melancholie werden dabei ignoriert. Anfang der 1990er Jahre bezeichnete Wendy Brown die linke Melancholie als eine „konservative Tendenz“, die das Aufkommen eines neuen „kritischen und visionären Geistes“ verhindere. In einem anderen Kontext (dem der Weimarer Republik kurz vor ihrer Krise) richtete Walter Benjamin in einem Artikel mit dem Titel Linke Melancholie eine ähnliche Kritik an den Geist der Neuen Sachlichkeit.
Diese „konservative Tendenz“ könnte jedoch zu einer Form des Widerstands gegen die Demission und den Verrat werden. Aufgrund der Niederlage der Revolution und des Endes der Utopien konnte eine erfolgreiche Trauer die Form einer Identifikation mit dem Feind annehmen; der besiegte Sozialismus wurde durch den akzeptierten Kapitalismus ersetzt. Wenn es keine sozialistische Alternative gibt, wird die Ablehnung des realen Sozialismus unweigerlich zu einer Art enttäuschter Akzeptanz des Marktkapitalismus usw. In diesem Fall war die Melancholie die hartnäckige Ablehnung jedes Kompromisses mit der Herrschaft. Melancholie als eine Form des politischen Widerstands.
Für fast zwei Jahrhunderte gab es eine linke Melancholie, die jedoch in der Regel zensiert wurde; es handelte sich um eine verborgene Tradition, die manchmal an die Oberfläche kam in den Schriften von Blanqui, Marx, Rosa Luxemburg, Walter Benjamin, Trotzki, und dem, was Adorno als „traurige Wissenschaft“ bezeichnete, usw. Von der Russischen Revolution bis zur revolutionären Linken der 1970er Jahre hat die Linke dieses Gefühl verdrängt. Der Hauptgrund für diese Verdrängung war das militärische Paradigma der Revolution, das im Oktober 1917 erschaffen wurde. Revolution bedeutete die militärische Eroberung der Macht. Das revolutionäre Lexikon war militaristisch: Stellungskrieg und Manöverkrieg, Kräfteverhältnisse, Strategie und Taktik usw. Die Revolutionär*innen waren die Soldaten einer Revolutionsarmee, mit ihrer Disziplin und ihren Hierarchien. Soldaten müssen stark, mutig, heldenhaft, großzügig, enthusiastisch, energisch, viril und auf keinen Fall melancholisch sein (die Revolution war nicht „intersektional“, sondern eher hierarchisch, sie besaß ihre Geschlechterhierarchien). Melancholie erschien als ein Symptom der Schwäche. Zu dieser Zeit wurde die Melancholie durch eine bestimmte Tradition kommunistischer Rituale und liturgischer Demonstrationen sublimiert.
Die linke Melancholie ist im 21. Jahrhundert sichtbar geworden. Nach 1989 „befreite“ die historische Niederlage des Kommunismus die linke Melancholie von ihrer früheren Zensur. Fast zwei Jahrhunderte lang hat die linke Kultur – die anarchistische, die sozialistische und die kommunistische – ein Erinnerungsrezept angewandt: Sie hat die Ereignisse der Vergangenheit ausgewählt, um sie in die Zukunft einzuschreiben. Es war ein „strategisches“ Gedächtnis der vergangenen Bewegungen und Kämpfe, ein zukunftsorientiertes Gedächtnis. Heute ist diese Dialektik zwischen Vergangenheit und Zukunft zerbrochen. In unserem „präsentischen“ Zeitalter ist die dialektische Spannung zwischen der Vergangenheit als „Erfahrungsfeld“ und der Zukunft als „Erwartungshorizont“ zu einer Art verstümmelter, „negativer Dialektik“ geworden. In diesem Zusammenhang kann eine melancholische Vision der Geschichte als Erinnerung an die Besiegten wiederentdeckt werden.
Diese linke Melancholie, die aus der historischen Niederlage der Revolutionen des 20. Jahrhunderts erwuchs, fand ihren stärksten Ausdruck wahrscheinlich eher in der Ästhetik als in der politischen Theorie oder Literatur. Man denke an Chris Markers A Grin Without a Cat (Le fond de l’air est rouge), vor allem in der zweiten Fassung von 1993, und an Theo Angelopoulos’ Ulysses’ Gaze (1995). Der Film zeigt das Ende des Kommunismus als das Ende einer Utopie und als einen Akt des Gedenkens, als eine ebenso feierliche wie tragische Trauerzeremonie. Eine berühmte Reise zeigt eine zerbrochene Lenin-Statue, die auf einem Boot liegend die Donau durchquert, den Blick und den Zeigefinger in den Himmel gerichtet. Plötzlich tauchen Menschen auf, die an einem überfüllten Ufer stehen, um seine Fahrt zu verfolgen. Sie schwenken keine Fahnen und rufen keine Parolen, sie schweigen; viele von ihnen knien nieder und bekreuzigen sich. Eine traurige Melodie begleitet dieses Begräbnis von Lenin, einer zerbrochenen und gefallenen Statue. Angelopoulos stellt das Ende des Kommunismus als ein Werk der Trauer dar. Die Prozession der zerbrochenen Lenin-Statue entlang der Donau symbolisiert die Verdrängung des Kommunismus von der Bühne der Geschichte, seine Verwandlung in ein Reich der Erinnerung. Angelopoulos kehrt Eisensteins Metapher der zerbrochenen Statue um. In Oktober (1927) beginnt die russische Revolution mit dem Sturz der Alexanderstatue. In Ulysses’ Gaze wird die Niederlage der Revolution durch die kaputte Lenin-Statue metaphorisiert. Dennoch suggeriert Angelopoulos weder Resignation noch Passivität. Der Held seines Films reist über den Balkan, um zu den Ursprüngen zurückzukehren (der erste griechische Film wurde in der Bibliothek von Sarajevo hinterlegt). Lenin kehrt nach Mitteleuropa zurück, wo der Kommunismus geboren wurde.
Man könnte Angelopoulos’ Film als eine Illustration von Reinhart Kosellecks erkenntnistheoretischer Einschätzung interpretieren: Das Wissen kommt von den Besiegten, die die Vergangenheit mit einem kritischen Blick betrachten; sie versuchen zu verstehen, warum sie gescheitert sind und besiegt wurden. Der Blick der Sieger ist apologetisch, nicht kritisch
Aus dem Englischen übersetzt von Jens Kastner.
Enzo Traverso ist Historiker und Professor an der Cornell University, Ithaka, New York. Auf Deutsch erschienen von ihm zuletzt die Bücher Revolution. Eine Geistesgeschichte (Wien/Berlin, Verlag Turia + Kant 2023) und Linke Melancholie. Über die Stärken einer verborgenen Tradition (Münster, Unrast Verlag 2019).