Mit rigoroser performativer Selbstironie verarbeitet die Tänzerin, Choreografin und Filmemacherin Yvonne Rainer in MURDER and murder1 (1996) ihre Brustkrebs-Überlebensgeschichte. Und inszeniert einen emotionalen Beziehungsclinch zweier Ü60_-Lesben als Boxkampf. Rainer unterscheidet MORD in Großbuchstaben: strukturelle Gewalt, Umweltvergiftung, Homophobie und Mord, gemischt geschrieben. Die Statistiken über Brustkrebs, die sie im Frackanzug – die amputierte Brust entblößt („this absence this flatness this surgeon’s gift“) – vorträgt, erweisen sich im Gegensatz zu ihren körperlichen Erfahrungen als unangemessen. Die Gespräche über Nebenwirkungen von Medikamenten und HIV-induzierte Symptome, wie auch das Zitat von Audre Lorde, dass Brust-Rekonstruktionen und -Prothesen nur eine andere Art sei, Frauen mit Brustkrebs still und voneinander getrennt zu halten, sind hingegen sehr angebracht.
Vor Jahren schrieb ich einen Text für eine Festschrift zum Geburtstag einer Filmwissenschaftlerin, welche ich über alle Maßen schätzte. Vor allem dafür, wie oft sie meine Arbeit in entlegenen Fußnoten gewürdigt hatte, und auch dafür, wie ihre feministische Solidaritätspolitik an dem von ihr geleiteten Institut in der Wertschätzung externer Lehrender gipfelte. In meinem Text beschrieb ich ironisch einen fiktiven Festivalbesuch, indem ich voneinander unabhängige Erfahrungen und Einschätzungen wild zusammen montierte, um dann akribisch genau über existierende Filme zu schreiben, somit also Reales und Fiktives vermischte. Die Reaktion der Redaktion zeigte mir, dass mein Vorhaben gescheitert war: Sie verlangten entsprechende Nachweise für Zitate und verstanden meine Formulierung ‚beflissene Juniorprofessorin’ als sarkastisch. (Die ich mir als weit weniger dem akademischen Hamsterrad und seinen Karrieresackgassen Ausgesetzte nicht anmaßen sollte. Dachte ich dann auch). Der verunsichernde Charakter der Ironie oder meine eigene Überheblichkeit hatten zugeschlagen. Aber war meine krisenhafte und nicht sonderlich gutmütige Ironie fein oder grob genug, war ich da produktiv oder eher schäbig auf mich selbst hereingefallen?
Meine Filmprogramme und Texte über die Stummfilmkomikerin Mabel Normand, die einige wenige Filme als Mentorin von Charlie Chaplin gedreht hatte, hatten sich eher mit der handfesten Slapstick-Körperkomik des frühen Kinos beschäftigt, ebenso wie unser Filmprogramm, das die Suffragetten-Bewegung im frühen Kino thematisierte. Die Vorstellung eines klassendiverseren Publikums, und wer wohl Anfang 20. Jahrhundert wie im Kino damals gelacht hatte über die exzessiven Destruktionen der bürgerlichen Haushalte durch wildgewordene „Dienstmädchen”, blieb auf stimulierende Weise im Unbestimmten.
Dann ist die Ironie am schwungvollsten als Selbstironie
In einem freundlichen Herbst besuchte ich ein Filmfestival in einer eher unbekannten Stadt. Die meisten Leute dort nahmen die Existenz des Festivals nicht zur Kenntnis. Es schauderte mir vor Filmfestivals: diese dauernde angestrengte Beflissenheit und Geschäftigkeit, das Professionalität vortäuschende Design der Festivalpässe und schlecht gedruckten Kataloge, die emsige Art, wie die Gäste in den Schlangen vor den verschiedenen Multiplexschuppen anstanden – und immer noch jemand Ambitiöseren schrill begrüßten. Wie sie mit ihren stinkenden Taschen von anderen Festivals auftrumpften. Das Stinken ist zwar passé, die Festival-Taschen sind nachhaltig, aber Weltläufigkeit wird weiter markiert. Nach einer Weile blendete ich das Drumherum aus. Ich trug eine leuchtend orangefarbene Jacke und konnte so sicher sein, dass die Unzähligen, die mit mir und meiner ungeselligen Sturheit und quengeligen Dünnhäutigkeit sowieso nichts anfangen konnten, mich schon von weitem sahen und mir auswichen.
So allmählich wurde mir das Filmesehen wieder zum Alltag, Filme verwischten ihre anstrengenden Einzel-Spuren, und an das sehr schnittfeste Rührei im Hotel hatte ich mich gewöhnt. Zuschauer, die frühzeitig allein in der ersten Reihe saßen und noch etwas in ihrem Taschenbuch lasen, tauchten wieder auf. Und es war hier auch ganz anders als in dem Kino in der Metropole, wo ich oft langhaarige Praktikantinnen beobachten konnte, die Käsestangen arrangieren mussten für Mietvorstellungen, und sowieso ganz anders als bei den Kunstevents, wo Menschen in Designerklamotten schnieke über „Arbeiten“ reden.
Jemand hatte mir ein Spezialprogramm in einem weit abgelegenen Kino empfohlen. Da ging ich hin. So wie in der Frühzeit der Fotografie meist die Chemie besprochen wurde, gilt nun nach dem Ende des analogen Zeitalters viel Eifer den Maschinen: In der gesamten Filmreihe ging es um Aufnahmegeräte – um rasende Kurblerinnen und den wunderbar leichten 35mm-Kinamo (entwickelt 1928 von dem Ingenieur Emanuel Goldberg),2 um die große Holzvideokamera, mit der in den frühen Berliner 1990er Jahren Läsbisch-TV gedreht wurden, um Go-Pros und um das Videogerät von Vito Acconcis Mutter.3 Im Mittelpunkt des Programms aber standen die Kamerahelmfilme der Berliner Künstlerin Margaret Raspé,4 ab 1971 entstanden. Sie benutzte den Kamerahelm mit der angeschnallten Super8-Kamera als prothetische Erweiterung des Körpers, der die Perspektive der Künstlerin als Haus-und-Kunst-Arbeiterin universal erfahrbar macht. Die Kamera also als Verlängerung, als Prothese des Körpers?
Die Verschiebung der sozialen Erdatmosphäre
Die ableistische Norm entsorgt in ihren Darstellungen die Behinderung gerne: Sie wird überwunden, versteckt, ausgelöscht, medikalisiert, gothic-isiert, kompensiert, angeeignet, abgewertet, übertrieben und stigmatisiert. Sharon L. Snyder und David T. Mitchell5 arbeiteten heraus, wie der behinderte Körper als metaphorisches Potential in Narrationen eingebaut wird, um Negatives oder Unheimliches einzuleiten und um Leidensprojektionen oder overcoming-Parabeln zu erzählen: die narrative prosthesis.
Shelley Barry, südafrikanische Filmemacherin und disability rights-Aktivistin, fragt in ihrem autobiografischen Film A camera on my lap 6 (2022, 17’): „Where were my examples of persons with disabilities who were onscreen or making film? At the time I didnt have any references. […] Until another small question posed itself on me: Why not? Why couldnt I be a filmmaker who happened to be seated in a wheelchair? Who happened to have a voice generated by a metal flap in my throat. Why not?“. Eine gleitende schwarz-weiss-Super-8-Fahrt mit Perspektive auf ihre nackten geschmückten Füße, die auf der Fußstütze des Rollstuhls über den Boden schweben, verbindet sich mit ihren Worten. Die berührte Stimme erzählt von einem grundsätzlich veränderten Alltag, einem Bruch. Aus der Isolation sortiert sich ihre künstlerische Arbeit neu. Der Rollstuhl wird zum Dolly in eine neue Welt von Bezüglichkeiten. Was kann ich hier tun, sagt sie, welches Fenster in die Welt und welche Leinwand öffnen?
Und wie den Alltag in einer Post-Apartheid-Suburb in der Cape Provinz, Südafrika feiern?
Nun ist der neue Film C-TV (Wenn ich Dir sage, ich habe Dich gern …) von Eva Egermann und Cordula Thym (30’, 2023)7 eine feine Entdeckung. Sein visueller und ermächtigender Überschwang verleitet mich zum Aufzählungsmodus: Die beiden haben mit ihrem Filmteam ein farbenfrohes Genre-Multiversum geschaffen: Sci-Fi und agency-Dok, TV-Talkshow und Songcontest-Auftritt, Pausenjingle und Wellness-Übung, Literaturlesung und Malereibesprechung. Das ist längst nicht alles. Maske und Szenenbild8 des Films schillern, glitzern zwischen Golden Girls-Bezügen, Statement-Keramik,9 John Waters-Referenzen, Trash-TV, BlutFellStaub, einem grummelnden Zombie als popkulturellem Wiedergänger eines kriegsversehrten Soldaten und den Lichtblitzen wild gewordener Feldhamsteraugen vom Meidlinger Friedhof. Eine Gebärdensprachdolmetscherin10 -interpretiert die poetischen Texte der usbekisch-österreichischen Autorin Ianina Ilitcheva11 in einer sehr körperlichen Sinneseindrucks-Übersetzung. Dokumentarisch inszeniert werden die beiden Gäst_innen Em Gruber und Iris Kopera12 dann vor Ort bei ihrer Arbeit im Monitoringausschuss für Menschen mit Behinderungen und im Selbstvertretungszentrum für Menschen mit Lernschwierigkeiten in Wien besucht. Die Filmemacherinnen haben die Audiodeskription für Gehörlose als Genre ernst genommen und mit fröhlich-lautmalerischem Überschuss erweitert, mit vielen Anklängen an Alltags- und Comicsprache. Da „legt der E-bass los“ nach dem „Einset zen der Bossa Nova-Percussion“ und das „Aufschütteln“ des von John Waters abgekupferten Kissens namens „Flop“ endet mit einem temperamentvollen „Pow“. Und „Seufz“: Die Arbeit ist getan, die putzende Dragqueen tänzelt davon. Vor allem aber durchbricht der Film brachial und zart zugleich über utopische Science-Fiction-Elemente immer wieder die ableistische Welt. Gleich zu Beginn hat eine starke Erschütterung das TV-Studio verwüstet und infolgedessen „die soziale Erdatmosphäre und ihren Inklusionsquotienten auf 99% verschoben“, so die Nachrichtensprecherin des Abendprogramms.
Die liebevoll-routinierte Talkmasterin Hedi (Rheumarr) Hamster in zartem Rosa und mit pelzigem Hamsterkopf begrüßt ihren ersten Gast Em -Gruber. Das experimentelle Studiogespräch mit Gruber ist von unwiderstehlicher ironischer Leichtigkeit, wenn sich die Gesprächspartner_innen über ihre jeweiligen Morgenroutinen zwischen Morgensteifigkeit, Medikamentenübermaß, Testosteroneinreibung und halbstündige Depressions-Slots austauschen. Die Maskierung mit dem Hamsterkopf und Egermanns eindrucksvolle Stimme gepaart mit minimalen, nicht-mimischen Gesten des Kopfnickens, Aufstützens usw. verschieben die Gespräche bei allen subjektiven Erzählungen in einen strukturellen und entrückten Meta-Raum, der die gemeinsamen Erfahrungen weniger personalisiert und engführende Sichtbarkeiten abschmettert. Und zum Abschied blickt das Team in fröhlicher Interdependenz nach oben: „Aus einem muschiförmigen Riss in der Wolkendecke fällt ein breiter goldener Sonnenstrahl“. 13
1 Yvonne Rainers Filme sind vom MOMA in 4K restauriert worden, und im Arsenal Institut für Film-und Videokunst in Berlin ausleihbar.
2 Mit der Ella Bergmann-Michel in den frühen 1930er Jahre ihre künstlerisch-aktivistischen Stadtfilme in Frankfurt am Main gedreht hatte.
3 Dies ist z.B. eine Erfindung. https://www.ubu.com/film/-acconci.html
4 https://hausamwaldsee.de/margaret-raspe/ > bis 29.5.2023 Einzelausstellung Margaret Raspé im Haus am Waldsee, Berlin.
5 David T. Mitchell & Sharon L. Snyder: Narrative Prosthesis. Disability and the Dependencies of Discourse, University of Michigan Press 2001.
6 Der smart-phone-gedrehte Lockdown-Film hatte Premiere bei den Internationalen Kurzfilmtagen Oberhausen 2022 und gewann den Zonta-Preis im Internationalen Wettbewerb.
7 Festival-Premiere auf der Diagonale 2023 in Graz, interna-tionale Premiere bei den Kurzfilmtagen Oberhausen April/Mai 2023.
8 Szenenbild, Kostüm und Maske sind von (Performance-)Künstlerin Berivan Sayici, die oft mit Drag arbeitet.
9 Wie die Corona-Vase von Cordula Thym.
10 Die selbst gehörlose Barbara Schuster, die den Verein Kinderhände zur Unterstützung gehörloser Kinder gegründet hat.
11 Ianina Ilitchevas Buch über ihre Selbstisolation 183 Tage (Verlag Kremayr und Scheriau 2015) und ihre Sammlung von Tweet-Texten #blutundkaffee (Frohmann Verlag 2017) sind Inspirationen für den Film. Das Werk der 2016 verstorbenen Autorin und Künstlerin wird zwar viel rezipiert, seltener aber wird thematisiert, dass Ilitcheva aus der Position einer chronisch Kranken spricht, so Eva Egermann und Cordula Thym im Gespräch (13.3.2023).
12 Beide haben im Crip Magazin publiziert, dem langjährigen Projekt von Eva Egermann. https://cripmagazine.evaegermann.com/
13 Ianina Ilitcheva: @blutundkaffee, Nr. 39, a.a.O.
Madeleine Bernstorff schreibt und lehrt und macht recherchebasierte, feministisch motivierte und oft kollaborative Filmreihen für den Kinoraum. Sie lebt in Berlin. www.madeleinebernstorff.de