Das Fremde ist Teil unseres Selbst, denn kaum verlassen wir unsere Heimat, werden wir zu Fremden. Bereits der viel zitierte Ausspruch des Komikers und Volkssängers Karl Valentin, „Fremd ist der Fremde nur in der Fremde“[1], verweist auf die komplexe Beziehung von fremd und heimisch. In einem Wortspiel reflektiert Valentin über das Verhältnis von fremd und eigen, die Fremde und das Fremde. Implizit ist Valentins Ausspruch, dass jeder Mensch heimisch und fremd sein kann, abhängig von dem örtlichen Kontext, in dem er oder sie sich bewegt. In den Diskursen um „das Fremde“ wird postuliert, dass das Fremde eigentlich nur aus einem Wissen um das Eigene erklärt werden könne und damit Fremdheit „Ausdruck für eine Relation“[2] sei. Damit werden auch Fremdenfeindlichkeit und die Angst vor Überfremdung zu relationalen Kategorien, die nur über die Selbstvergewisserung des Eigenen als „heimisch“ funktionieren. Fremde sind in soziologischen Definitionen – neben den sich nur temporär im Ausland Aufhaltenden – auch „Migranten, die eine andere kulturelle Herkunft besitzen, andere Traditionen verfolgen, eine andere Sprache sprechen und damit krisenhafte Begegnungen provozieren“ [3]. Damit wird der/die Fremde mit den Migrant/innen synthetisiert, die aus ihrem Herkunftsort kommend auf unbestimmte Zeit den Status des Fremden haben. Julia Kristeva beschreibt den Raum des Fremden in der Fremde als „fahrender Zug, ein fliegendes Flugzeug, der jedes Anhalten ausschließende Transit selbst.“[4] Diese Definition indes vermittelt das Dasein der Fremden als transitorisch, so als sei ein Ankommen oder Einfinden in neue Kontexte unmöglich.
Diesen theoretischen Verhandlungen des Fremden, des Fremdseins und der Fremdheit (in der Fremde) stehen künstlerische Arbeiten gegenüber, die sich vielschichtig und kritisch mit dem „Ihr“ und dem „Wir“ als binäre Modelle beschäftigen. Das Künstlerkollektiv Claire Fontaine setzt die Arbeit Foreigners Everywhere5 international in verschiedenen Sprachen als Neonschrift um und problematisiert den Begriff des Fremden: Ein Ich und das Vertraute sind Voraussetzungen, um das Fremde fassen zu können, so wie auch das Fremde zur Definition des Eigenen dient. So sind „Heimat und [die] Fremde […] Kategorien der Orientierung“[6] und der Ordnung. Wenn, wie bei den Diskursen um „das Fremde“, postuliert wird, das Fremde eigentlich nur aus einem Wissen um das Eigene erklärt werden könne, so setzen Claire Fontaine die Behauptung dagegen, dass das Fremde überall sei, sie lösen den Begriff vom Subjekt, generalisieren den oder das Fremde als Grundfigur und öffnen damit auch die Zuschreibungsmöglichkeiten: Fremdsein wird zum Grundzustand in einer Gesellschaft und Welt.[7]
Interessant ist in der Arbeit der Umgang mit Sprache und Neonschrift, die einerseits als Hinweis auf Künstler wie Maurizio Nannucci oder Bruce Nauman gedeutet werden kann. Andererseits wird die Sprache in den internationalen Diskussionen um Einwanderung als Indikator einer sogenannten „erfolgreichen Integration“ gemessen. So hieß es 2006 in einem Bericht der Arbeitsstelle Interkulturelle Konflikte und gesellschaftliche Integration (AKI): „Sprache hat im Prozess der individuellen wie der gesellschaftlichen Integration eine herausgehobene Bedeutung, da sie mehrere Funktionen erfüllt. Sie ist sowohl Medium der alltäglichen Kommunikation als auch eine Ressource, insbesondere bei der Bildung und auf dem Arbeitsmarkt. Zudem können Sprachen und Sprachakzente als Symbole von Zusammengehörigkeit oder auch Fremdheit wirken und zu Abgrenzungen oder Diskriminierungen führen.“[8] Mehrsprachigkeit oder Sprachprobleme werden oftmals im Kontext kultureller oder ethnischer Herkunft bewertet: das Beherrschen der Muttersprache ist bei Arbeitsmigrant/innen kein Mehrwert sondern ein Defizit, wie das verworfene Strategiepapier der Christlich-Sozialen Union in Bayern (CSU) von 2014 zeigt, das Eingewanderten vorschreiben wollte, Zuhause deutsch zu sprechen.[9] Dagegen wird Mehrsprachigkeit bei Nativen häufig als besonders gute Voraussetzung für eine Karriere angesehen.
Claire Fontaine schreiben in verschiedenen Sprachen – ausgenommen auf Englisch – und bringen den Schriftzug, abhängig davon, an welchen Orten und Ländern er platziert ist, in andere Bedeutungszusammenhänge.[10] Foreigners Everywhere, vom Namen einer Turiner Anarchistengruppe inspiriert,[11] erscheint auf Griechisch, Rumänisch, Albanisch oder Türkisch. Rezipienten können also im besten Fall lesen und sich dabei gleich fragen, warum sie als Sprachkundige mit dem Terminus des Fremdseins angesprochen werden. Dabei beinhaltet Foreigners Everywhere mehrfache Lesarten: Wir können uns als Fremde fühlen, wo immer wir sind, oder es lassen sich Fremde an jedem Ort finden. Fremdsein ist in diesem Zusammenhang kein marginales Phänomen, sondern eine conditio humana – eine Bedingung des Menschseins. Claire Fontaines Schriftzug Foreigners Everywhere erscheint indes auch auf Deutsch, hier entweder als Fremde überall[12] oder als Ausländer überall.
Der Begriff des Ausländers/der Ausländerin, der eng mit dem der Migration verwoben ist, ist ebenso wie „der Fremde“ nicht ohne seinen Gegenbild zu verstehen: Die Bedeutung des Wortes „Ausländer“ lässt sich nur als Abgrenzung von „Inländern“ erschließen, artikuliert folglich die Perspektive eines Inlandes und legitimiert sich über Prinzipien von Ex- und Inklusion. So heißt es in § 2, Abs. 1 des deutschen „Aufenthaltsgesetzes“ (AufenthG): „Ausländer ist jeder, der nicht Deutscher im Sinne des Artikels 116, Abs. 1 des Grundgesetzes ist.“[13] Dort steht geschrieben: „Deutscher im Sinne des Grundgesetzes ist vorbehaltlich gesetzlicher Regelung, wer die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt oder als Flüchtling oder Vertriebener deutscher Volkszugehörigkeit oder als dessen Ehegatte oder Abkömmling in dem Gebiete des Deutschen Reiches nach dem Stande vom 31. Dezember 1937 Aufnahme gefunden hat.“[14] Ausländer/Fremde und Deutsche erscheinen in den gesetzlichen Bestimmungen als Antagonisten – wer das eine ist, kann das andere nicht sein. Staatsangehörigkeiten oder das ius sanguinis, das Recht des Blutes, entscheiden über Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit zur Gemeinschaft.
Auf die Sprache als Trennung oder als Bindeglied bezieht sich die Künstlerin Meriç Algün Ringborg in ihrer Arbeit Ö (The Mutual Letter)[15] (2011), für die sie all jene Worte sammelte, die im Schwedischen und Türkischen identisch sind. Die Arbeit besteht aus zwei Teilen: einer Sound-Installation und einem Büchlein, das vom Besucher mitgenommen werden kann. In der Form der Printversion bezieht sich Ringborg deutlich auf Félix González-Torres’ Arbeiten, darunter auch eine für den Themenbereich Migration interessante wie Untitled (Passport II) von 1993, die um Definition von Identität über offizielle Papiere kreist.[16] Ringborg fand 1.270 identische Begriffe im Schwedischen und Türkischen wie „amatör“ (für Amateur), „likör“ oder „normal“. Die Sensibilisierung für sprachliche Kohärenzen ergab sich bei Ringborg ganz offensichtlich durch die Verlegung ihres Wohnsitzes 2007 von Istanbul nach Stockholm. In dem akustischen Part der Installation, bei dem Schwedisch und Türkisch alternierend vorgelesen werden, übernimmt ihr schwedischer Partner das Schwedische, sie selbst spricht die türkischen Wörter – die beide ununterscheidbar sind. Für Ringborg konstituierten sich aus ihrer Migration, ihrem Erleben als Zugereiste Themen eigener künstlerischer Arbeiten. So schreibt sie über ihren Umzug nach Stockholm: „It is enough to say that, as a consequence, I was in a new home instead of my old home. This made cultural identity, language, belonging, and bureaucracy of moving across borders increasingly compelling subjects to me, as I had to apply, wait, be evaluated, and deemed fit to fit into this new society. By appropriating the methodology of collecting, systematizing, and list making, I began working with and against these themes.“[17]
Ein- oder Auswanderung verändert den Blick für das Umfeld, ebenso wie das Umfeld, der Mikrooder Makrokosmos, durch Einwanderung verändert wird. Migration – das lateinische migratio meint „(Aus-)Wanderung, Umzug“ – ist „die auf einen längerfristigen Aufenthalt angelegte räumliche Verlagerung des Lebensmittelpunkts von Individuen, Familien, Gruppen oder auch ganzen Bevölkerungen. Unterscheiden lassen sich verschiedene Erscheinungsformen räumlicher Bevölkerungsbewegungen: Dazu zählen vor allem arbeits- und Siedlungswanderungen, Bildungs-, Ausbildungsund Kulturwanderungen, Heirats- und Wohlstandswanderungen sowie Zwangswanderungen.“[18] Dabei ist sicherlich für die Disposition des Migranten ausschlaggebend, unter welchen Umständen das Heimatland verlassen wurde. Wirtschaftliche Not oder politische Verfolgung werden andere Einflüsse auf Verhaltens- und Lebensweisen haben als beispielsweise das globale Agieren von Künstler/innen im Kontext ihrer Arbeit oder Ausstellungstätigkeit.[19] Migration ist nicht nur stadt- und gesellschaftsbildend,[20] sondern kann zu anderen künstlerischen Themen, zu Verfahrensweisen und Reflexionen führen. Dies meint nicht nur das motivische Reflektieren von Migration oder Migrant/innen, sondern auch künstlerische Verfahren wie Praktiken des Sampelns oder das Überschreiten von Gattungsgrenzen, einen soziologischen oder politischen künstlerischen Ansatz, ein besonderes Interesse für Sprache, Handlungs- und Ausdrucksweisen.
Burcu Dogramaci ist Professorin für Kunstgeschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München.
Der vorliegende Beitrag ist die aktualisierte und veränderte Fassung von: Burcu Dogramaci: Fremde überall – Migration und künstlerische Produktion. Zur Einleitung, in: dies. (Hg.): Migration und künstlerische Produktion. Aktuelle Perspektiven, Bielefeld 2013, S. 7–19.
[1] Karl Valentin: Die Fremden (1940), in: Das Beste von Karl Valentin, hg. v. Elisabeth Veit, Zürich 1998, S. 36–38, hier S. 37.
[2] Bernhard Waldenfels: Erfahrungen des Fremden in Husserls Phänomenologie, in: Ernst Wolfgang Orth (Hg.): Profile der Phänomenologie. Zum 50. Todestag von Edmund Husserl, Phänomenologische Forschungen, 1989, H. 22, S. 39–62, hier S. 44.
[3] Julia Reuter: Der Fremde, in: Stephan Moebius und Markus Schroer (Hg.): Diven, Hacker, Spekulanten. Sozialfiguren der Gegenwart, Berlin 2010, S. 161–173, hier S. 165.
[4] Julia Kristeva: Fremde sind wir uns selbst, Frankfurt am Main 1990, S. 17.
[5] Abb.: Claire Fontaine. Foreigners Everywhere, Ausst.-Kat. Museion Bozen 2012, S. 60.
[6] Wolfgang Müller-Funk: Einleitung, in: ders. (Hg.): Neue Heimaten, neue Fremden. Beiträge zur kontinentalen Spannungslage, Wien 1992, S. 9–18, hier S. 9.
[7] Siehe dazu das Statement von Claire Fontaine: Foreigners Everywhere, 2005, www.contemporaryartdaily.com/2010/12/claire-fontaine-at-helena-papadopoulos (Abruf: 23. 12. 2015).
[8] Hartmut Esser / Arbeitsstelle Interkulturelle Konflikte und gesellschaftliche Integration (AKI), Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB): Migration, Sprache und Integration, AKI-Forschungsbilanz 4, Berlin 2006, S. 1.
[9] www.faz.net/aktuell/politik/einwanderung-csu-bleibt-dabei-auslaendersollen- zuhause-deutsch-sprechen-13307495.html (Abruf: 22. 12. 2015).
[10] Zur Relation zwischen Sprache und Kontext bei Foreigners Everywhere vgl. Letizia Ragaglia: M-A-C-C-H-I-N-A-Z-O-N-I, in: Claire Fontaine. Foreigners Everywhere, Ausst.-Kat. Museion Bozen 2012, S. 8–20, hier S. 19.
[11] Vgl. Fremde überall. Werke zeitgenössischer Kunst aus der Pomeranz Collection, Ausst.-Kat. Jüdisches Museum Wien 2012, S. 44.
[12] Abb. in: Fremde überall. Werke zeitgenössischer Kunst aus der Pomeranz Collection, Ausst.-Kat. Jüdisches Museum Wien 2012, S. 46f.
[13] Gesetz über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet (Aufenthaltsgesetz [AufenthG]), § 2, Abs. 1, www.aufenthaltstitel.de/aufenthaltsg.html (Abruf: 22. 12. 2015).
[14] Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Art. 116, Abs. 1: www.gesetze-im-internet.de/gg/art_116.html (Abruf: 22. 12. 2015).
[15] Abb. in: Dogramaci 2013 (wie Anm. 1), S. 14.
[16] So war Ringborgs Arbeit auf der Istanbul Biennale 2011 auch in der Torres gewidmeten Sektion Untitled (Passport) zu sehen. Zu Torres’ Untitled (Passport) vgl. Félix González-Torres, Roni Horn, Ausst.-Kat. Sammlung Goetz, München 1995, S. 10, 38; Hans-Ulrich Obrist im Gespräch mit Félix González-Torres, in: Der Standard, 10. 1. 1996, S. 8.
[17] simsiz (12. Istanbul Biennale), 2011. El Kitabı, Ausst.-Kat. 12. Istanbul Biennale 2011, S. 254.
[18] Klaus J. Bade und Jochen Oltmer: Migration in der Geschichte – Bedingungen, Formen und Folgen, in: Henning Brüning, Elke Mittmann u.a. (Hg.): Die anderen Städte. IBA Stadtumbau 2010, Berlin 2010, S. 88–98, hier S. 88.
[19] „Indeed, directly attaching the cosmopolitan, freely traveling, contemporary artist or businessman to the underprivileged migrant worker is not only superficial, but also an act of unproductive cynism.“ Niels van Tomme, in: Where Do We Migrate to?, Ausst.-Kat. Center for Art Design and Visual Culture, University of Maryland Baltimore County, Baltimore, New York 2011, S. 11–18, hier S. 13.
[20] Vgl. Jens S. Dangschat: Ohne Migration keine Stadt!? Die Segregation oder die Integration der Stadtgesellschaft, in: Metropole: Kosmopolis, Hamburg 2011, S. 60–67.