Die Zukunft realisieren: Erinnerungsaktivismus im sozialen Aufstand in Chile

„Diejenigen, die ein Gedächtnis haben, können in der fragilen Gegenwart leben. Diejenigen, die keines haben, leben nirgendwo.“ Mit diesem Satz eröffnet der Regisseur Patricio Guzmán seinen Dokumentarfilm Nostalgia de la luz (2010). ­Darin bringt er zwei Themen und Zeiten zusammen, die in der nordchilenischen Atacamawüste koexistieren: Während Astronom*innen in Observatorien den Himmel beobachten, suchen Hinterbliebene nach menschlichen Knochen von detenidos ­desaparecidos (verschwundene Gefangene) der zivil-militärischen Diktatur. In der Zeit von 1973 bis 1990 ließ General ­Augusto Pinochet in Chile über 3.000 Menschen scheinbar spurlos verschwinden, vergraben in den Weiten der Wüste, versenkt in den Tiefen des Pazifiks. Die Fragilität der Gegenwart offenbart sich in ihrer Überlagerung, in der die einen an neuen wissenschaftlichen Einsichten für die Zukunft arbeiten und die anderen nach Erkenntnissen über das in der Vergangenheit Geschehene trachten.

Die Bedeutung dieser Zeitschichten ist in Chile im Oktober 2019 mit einer vehementen Heftigkeit auf die Straße zurückgebracht worden, die Beteiligte und Unbeteiligte gleichermaßen überraschte. Die Ursache der landesweiten Demonstrationen war der Umgang mit dem neoliberalen Erbe der Diktatur während der Transition und eben nicht die vorangegangene Erhöhung der U-Bahn-Preise um 30 Pesos. Zu Beginn wurde deshalb landesweit gerufen: „Es sind nicht 30 Pesos, es sind 30 Jahre“. Der Unmut, den zunächst Schüler*innen öffentlich artikulierten, wurde schnell zu einer manifesten sozialen Bewegung, genannt „estallido social“ (sozialer Aufstand).

Diverse negative Erinnerungen wurden dabei dadurch ausgelöst, dass Präsident Sebastián Piñera den Ausnahmezustand ausrief, welcher dazu führte, dass das Militär erstmals seit der Diktatur auf den Straßen (gewaltsam) präsent war. Welche Bedeutung jedoch positive Erinnerungen an Kämpfe der Vergangenheit hatten, wurde auf künstlerische Weise vielfältig zum Ausdruck gebracht: Das Víctor Jara Sinfónico ebenso wie Inti Illimani spielten vor jubelnden Menschenmengen El pue­blo unido jamás será vencido. Dieses Lied von 1970 war konstanter Begleiter während der Präsidentschaftskampagne Salvador Allendes. Überhaupt ist Allende, gegen den das Militär 1973 putschte, ein wichtiger Begleiter der Demonstrierenden. Zentral ist ein Satz seiner letzten Rede: „Sigan ustedes sabiendo que […] se abrirán las grandes alamedas por donde pase el hombre libre para construir una sociedad mejor.“ (Bleibt in dem Wissen, dass […] sich die großen Straßen öffnen werden, durch die der freie Mensch gehen wird, um eine bessere Gesellschaft aufzubauen.). Dies hatte bereits Pablo Milanés musikalisch in seinem Lied Yo pisaré las calles nuevamente verarbeitet. Das Lied schrieb der kubanische Sänger 1974 als Reaktion auf den Tod Miguel Enríquez‘, Generalsekretär des Movimiento de Izquierda Revolucionaria (Bewegung der revolutionären Linken). Mit einer neuen Version und Bildern des sozialen Aufstandes transportierte der spanische Sänger Muerdo das Lied in die Gegenwart von 2019.

Die einende Erinnerungsarbeit, die in der Musik geleistet wird, ist auch in anderen Kunstformen zu beobachten. Die Kulturkritikerin Nelly Richard spricht davon, dass die Wände der Hauptstadt Santiagos zu einem Tagebuch des Protests wurden. Neben unzähligen Künstler*innen, die mit Paste-Ups ihre Wut und Hoffnung visualisierten, verleiht Delight Lab, ein Studio für audiovisuelle Gestaltung, dem Protest ein künstlerisches Antlitz. Das Kollektiv projiziert kontinuierlich Inschriften an Fassaden Santiagos und rekurriert dabei auf vergangene Vorbilder. Mit dem Satz „¿Qué entiende Ud. por democracia?“ (Was verstehen Sie unter Demokratie?) zitierten sie Estudios sobre la Felicidad. Intervenciones públicas (1979-1981) des Künstlers Alfredo Jaar (*1956). Dieser stellte während der Diktatur auf Plakatwänden die Frage: „Es Usted feliz?“ (Sind Sie glücklich?).

Ein entscheidender Referenzpunkt für Delight Lab ist außerdem das Colectivo Acciones de Arte (C.A.D.A.), das von 1979 bis 1983 den visuellen Widerstand gegen die Diktatur maßgeblich prägte. Insbesondere auf den feministischen Aktivismus zweier Mitglieder, der Künstlerin Lotty Rosenfeld (1943-2020) und der Schriftstellerin Diamela Eltit (*1947), verweist Delight Lab. Beispielsweise zum Internationalen Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen (25.11.) im Jahr 2020 taten sie sich mit dem Theaterkollektiv Las Tesis – durch die Performace Un Violador en tu Camino (Ein Vergewaltiger auf deinem Weg) zu weltweiter Bekanntheit gelangt – für die Projektion Somos+ (Wir sind mehr) zusammen. Damit zitierten sie eine Widerstandsaktion aus dem Jahr 1985 von Mujeres por la Vida, zu denen Rosenfeld und Eltit ebenfalls gehörten. Diese Form des memory of activism, wie es die Literaturwissenschaftlerin Ann Rigney nennt, verdeutlicht, dass durch Delight Lab die vergangenen Kämpfe für eine bessere Welt kulturell in Erinnerung bleiben. Es ist also die post-diktatoriale Generation, die öffentlich die Erinnerungen an Widerstandsbewegungen und ihre Solidaritätspraktiken stärkt, wie Soziologin Manuela ­Badilla Rajevic beobachtet. Damit wendet sich die junge ­Generation gegen die 30 Jahre lang gültige, offizielle Erinnerungspolitik, in der, wie Richard immer wieder kritisierte, jegliche Konflikthaftigkeit negiert wurde, um einen vermeintlichen ­gesellschaftlichen Konsens zu etablieren.

In der Präsidentschaftsstichwahl im Dezember 2021 wurde deutlich, dass die Konflikte jedoch nicht aufgehoben worden waren. Diejenigen, die für eine Abkehr von den neoliberalen Politiken und den feindschaftlichen Diskursen der Diktatur gekämpft hatten, taten sich zusammen – das „Somos+“ stand im Vordergrund. Es gelang ihnen, den rechtsextremen Kandidaten José-Antonio Kast zu verhindern. Der gewählte Präsident, Gabriel Boric, stellte wenig später sein Kabinett vor. Als Verteidigungsministerin ernannte er Maya Fernández-Allende, die Enkelin des einstigen Präsidenten. Die Gewalt der Vergangenheit wird so durch Momente der Hoffnung überlagert, die in dieser fragilen Gegenwart eine neue Präsenz erhalten.


Hannah Katalin Grimmer ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich Kunst und Gesellschaft der Universität Kassel und des documenta-Instituts. In ihrer Doktorarbeit befasst sie sich mit künstlerischen Praktiken im Kontext sozialer Bewegungen in Südamerika.