Der peruanisch-mexikanische Kunst- und Kulturwissenschaftler Juan Acha (1916–1995) beschäftigte sich bereits einige Zeit vor der Erfindung der „künstlerischen Forschung“ mit dem Verhältnis von Kunst und Wissenschaften. Wir dokumentieren den Schluss eines Aufsatzes von 1990. Die Red.
Die Künstler*innen bedienen sich nicht der Wissenschaften, sondern sie greifen sie auf, wenn sie bereits in der Gesellschaft zirkulieren und popularisiert, das heißt fragmentiert und ungenau sind. Als der Impressionismus aufkam, verdankte er sich den zirkulierenden Kenntnissen der visuellen Wahrnehmung, der Theorie der Farben von Eugène Chevreul und der Vorstellung von der Realität als nicht stabilem Veränderungsprozess (Soziologie und Marxismus). Der Surrealismus seinerseits bediente sich der psychoanalytischen Kenntnisse Sigmund Freuds und interpretierte sie auf seine Art und Weise. Tatsächlich ist es egal, ob die Künstler*innen sich des wissenschaftlichen Wissens korrekt bedienen oder nicht. Entscheidend ist, wie es ihnen zur Stimulierung der künstlerischen und ästhetischen Schöpfung dient, so wie die Falschheit des „Steins der Weisen“ die Kenntnisse der Chemie als Wissenschaft generiert hat.
Während des Aufschwungs des Szientismus postulierten viele Künstler*innen ihre Position als wissenschaftlich und verwiesen auf die vierte Dimension, die Relativitätstheorie und die Einheit von Raum und Zeit. Selbst in der Geometrie beanspruchte man für sich, über eine rationale und wissenschaftliche Ästhetik zu verfügen. Die Menschen der Renaissance im 15. Jahrhundert verkörperten eine wahrhaft wissenschaftliche Haltung, insofern sie die Geometrie studierten und benutzten, um höchst naturalistische Figuren zu malen und nicht nur einfache geometrische Figuren auf die Oberfläche des Bildes zu blenden, wie die Filmemacher*innen unseres Jahrhunderts es tun.
Alles in allem muss die/ der Künstler*in den Fortschritten in den Wissenschaften, insbesondere in den Sozialwissenschaften, permanente Aufmerksamkeit widmen. Kurzum, das wissenschaftliche Wissen wirkt in der künstlerischen Produktion als Katalysator der Fantasie und der Emotionen. Die/ der Künstler*in übersetzt das Wissenschaftliche ins Künstlerische, das Rationale ins Ästhetische. Dasselbe gilt für die Wissenschaftler* innen: Sie tun was sie tun, ihre Haltungen und Ergebnisse werden immer wissenschaftliche und nicht künstlerische oder ästhetische sein.
Kunstwissenschaften oder Ästhetologien
Zweifellos besteht die größte Verbindung zwischen den Künsten und den Wissenschaften in der Kritik, der Theorie und der Geschichte aller Künste. Diese Disziplinen oder Wissenschaften der Künste machen den namensgebenden Faktor jener Theorie aus, zu der die ästhetische Praxis von Handwerk, Kunst und Design gehört. Ohne diese Wissenschaften gäbe es weder Malerei noch Skulptur im eigentlichen Sinne, das heißt als soziokulturelle Phänomene. […]
Die Kunstwissenschaften übersetzen die ästhetischen und künstlerischen Innovationen in Konzepte, weil diese dazu dienen, Kunst zu produzieren und wertzuschätzen. Die Konzepte sind demokratisch, aber die sensitiven Innovationen und Metaphern sind es nicht. Die genannten Wissenschaften sind auch damit beschäftigt, die Verbindungen der künstlerischen Arbeiten untereinander und deren Beziehungen zu ihrer Gesellschaft herzustellen. Mehr noch: Sie untersuchen das hegemoniale ebenso wie das populare Wertesystem der ästhetischen Kultur […]. Ohne Theorie gibt es keine Praxis und umgekehrt. Die Kritik untersucht die Werke der Gegenwart; die Geschichte jene der Vergangenheit; und die Theorie die ästhetische Kultur und die Kunst als soziokulturelles Phänomen.
In diese enge Verbindung von Wissenschaften und Künsten interveniert die Philosophie mittels der Ästhetik, einer ihrer Disziplinen. Die Philosoph*innen beschäftigen sich in erster Linie mit der natürlichen und der menschlichen Schönheit. Es war Alexander Gottlieb Baumgarten, der bei der Einführung des Begriffs der Ästhetik das Studium der Schönheit und der Künste, die philosophische Ästhetik und die Philosophie der Künste zu einer Disziplin verband. Zu dieser Zeit schien es zulässig, dabei die Wissensproduktion jeder Kunst an die Philosophie zu verlieren, weil es noch keine Sozialwissenschaften gab und weil sie in der Antike der Natur zugeschlagen wurde, bis sich die Naturwissenschaften von der Philosophie emanzipierten. Heute produzieren sie Wissen über jede der Künste getrennt, während die sogenannte „Philosophie der Wissenschaften“ sie kritisiert und evaluiert. Die Philosophie kann keine wissenschaftlichen Wissensformen hervorbringen.
Heute leben wir inmitten des Phänomens – das sich zum Problem gewandelt hat – der sich von der philosophischen Ästhetik emanzipierenden Theorien der Künste. Die Sozialwissenschaften haben sich entwickelt und das Instrumentarium der Wissenschaften aller Künste auf eine Weise bereichert, in der die Philosophie nicht mehr in der Lage ist, Wissensformen hervorzubringen. Allerdings wehren sich die europäischen Universitäten und insistieren nach wie vor auf der ästhetischen Philosophie als Wissensproduzentin. In Wirklichkeit hat sie sich in einen akademischen Apparat verwandelt, der sich im Kreis dreht, und zwar weder um die Künste noch um die ästhetischen Realitäten, sondern um Texte angesehener Philosoph* innen der Vergangenheit. Auf diese Weise praktiziert sie eine sterile historische Ästhetik, eingekapselt in ein akademistisches Vokabular und weit entfernt von jeder Realität. […]
Im Jahr 1965 definierten einige sowjetische Fachleute die Ästhetik zum Studium der ästhetischen Kultur einer Gesellschaft um. Daraus entstand eine Soziologie oder eine Sozialwissenschaft. Dasselbe passierte mit der Kunstkritik: Sie entwickelte sich von der Literatur hin zur Sozialwissenschaft, während die Kunstgeschichte ihren Organizismus aufgab, der die Kunst als Folge von Stilen sah, die ohne sozialen und historischen Kontakt entstanden, gediehen und starben. Von da an begann sie die historischen Differenzen anstatt des Historischen oder Gemeinsamen aller ästhetischen Kulturen zu unterstreichen.
In naher Zukunft werden wir Kunstwissenschaften sehen, die sich in Ästhetologien verwandelt haben – auch wenn der Begriff nicht sehr angenehm klingt. Sie werden zuerst die kollektiven Ästhetiken untersuchen und dann gleichermaßen die Produkte des Handwerks, der Künste und des Designs. Es gibt dann keinen legitimen Grund mehr, sich nur auf die Künste zu beschränken. Wir sehen Kunsttheorie nicht als Ersatz der ästhetischen Philosophie, sondern als eine Verknüpfung von Theorien. Schließlich werden sich die Verbindungen zwischen den Künsten und den Wissenschaften intensivieren, für ein besseres Gleichgewicht sowohl hinsichtlich der Individuen als auch der Gesellschaften.
Juan Acha (1916–1995) war einer der einflussreichsten Kunstund Kulturtheoretiker Lateinamerikas. In Peru geboren, lebte er seit den frühen 1970er Jahren in Mexiko. Mit seiner Verknüpfung von marxistischer Gesellschaftstheorie und Semiotik nahm er starken Einfluss auf die Entwicklung der konzeptuellen Künste in Lateinamerika.
Der Text ist ein Ausschnitt aus: Juan W. Acha: Las ciencias y las artes. In: Omnia. Revista de la coordinación general de estudios de postgrado. Jg. 6, Nr. 19 (Arte y Ciencia), Juni 1990, S. 7–14.
Aus dem Spanischen übersetzt von Jens Kastner. Mit Dank an Joaquín Barriendos und Maris Bustamante.