Bildpunkt: Adina, du bist selbst Schauspielerin und Poetry Slammerin, gibst aber auch Workshops für Schüler*innen. Auch ein Buch gibt es von dir, Jetzt mach‘ mal die Klappe auf. Das klingt sehr nach Empowerment. An wen richtest du dich mit deiner pädagogischen Arbeit und worin besteht deiner Ansicht nach die ermächtigende Wirkung des öffentlichen Sprechens?
Adina: Empowerment hat kein Alter. Deshalb richtet sich meine pädagogische und künstlerische Arbeit an jede Altersgruppe. Bei meinen Poetry Slams und Workshops ist es mir ein großes Anliegen, dass die Teilnehmenden ihr Inneres nach außen kehren und einen Raum haben, in dem das möglich ist. Ich sehe die Kunst des öffentlichen Sprechens als Plattform, um in einen Dialog mit mir selbst und mit meinem Umfeld zu treten. In meinen Poetry Slam Workshops verfolge ich den Ansatz, gemeinsam unsere Wahrnehmungen zu steigern und zu sensibilisieren; mit der uns innewohnenden Kreativität reflektiert auf unsere Umstände zu antworten und andere durch unsere Auftritte daran teilhaben zu lassen. Denn so können Worte ihre mächtige Wirkung entfalten, wenn sie ganz und gar pur, authentisch und unmittelbar sind.
Bildpunkt: Hanna, du hast kürzlich unter dem Titel Arbeitet nie! Deine Lebensgeschichte veröffentlicht, die zugleich die Geschichte des Verlags Edition Nautilus ist. In der Veröffentlichungspraxis ging es ja auch immer darum, bis dahin Ungehörtes vernehmbar zu machen und neuen Positionen ein Forum zu bieten. Linke Verlage haben es immer schwerer, in den Buchhandel zu kommen und selbst ein Publikum zu finden. Wie schätzt du die Lage linker Publikationstätigkeit ein?
Hanna: Ich würde den Begriff „links“ nicht mehr in Anspruch nehmen. Was soll der noch bedeuten? Auch die Edition Nautilus, 1973 gegründet, war ein in der linken Gegenöffentlichkeit „dissidenter“ Verlag. Uns ging es um eigenständige Positionen, um provokative Positionen, die den Denk- und Aktionsraum öffnen sollten. Uns ging es, zunächst stark an den Situationisten orientiert, tatsächlich darum, Unerhörtes zu publizieren und dabei gegen die anarchistische oder linke Orthodoxie zu verstoßen. Ich denke, dass es heute genauso wichtig ist wie damals, solcherart Texte zu publizieren, vielleicht sogar noch wichtiger. Damals, nach 1968, war alles im Aufbruch, heute scheint mir alles im Prozess der Verengung zu sein. Und die Mittel und Wege, den Publikationen Aufmerksamkeit zu verschaffen, sind immer wieder neu zu bestimmen oder zu erfinden.
Bildpunkt: In Kunst und Literatur hat die klare Ansage ja keinen besonders guten Ruf: Auch wenn realistischen Darstellungsweisen aus Sicht vieler Linker großes Potenziale im Hinblick auf soziale Effekte zugeschrieben wurde, der „Tendenzroman“ und die inhaltlich allzu eindeutig ausgerichtete visuelle Arbeit geraten schnell in Verdacht, bloß Propaganda und keine Kunst mehr zu sein. Es gibt ja zahlreiche Wege, mit diesem Dilemma umzugehen. Welche scheinen euch am vielversprechendsten?
Hanna: Ja, natürlich, ein Positionspapier ist keine Kunst. Ein Manifest kann sinnvoll sein, kann sogar notwendig sein. Eine Klarheit der Perspektive ist ja wichtiger Teil eines jeden gesellschaftlichen Tuns, auch des künstlerischen. Darüber hinaus ist aber der Raum der Kunst, wie übrigens auch der Raum der tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen, der Raum, der den ganzen Menschen erfasst, der das Imaginäre hervorholt, das tief vergraben in jedem schlummert. Kunst schafft einen Raum für den Dialog, einen intuitiven,
sinnlichen Raum, in dem nicht vorhersehbar ist, wie die Reaktion der Einzelnen sein wird. Kunst schafft einen Perspektivwechsel, Überraschung, regt zur Reflexion an, ist ein Schritt zur Selbst-Vergewisserung, zur Selbst-Ermächtigung, vielleicht auch zur Freude, oder zur Heilung, ein Schritt in die Freiheit.
Adina: Ich bin ein großer Fan der prägnanten Gleichnisse und künstlerisch aufbereitender Metaphern. Nichts kann so klar ausgedrückt werden, als wenn ich es nicht klar formuliere und es mit einer Geschichte visualisiere. Wir Menschen lieben Geschichten; wir erleben Geschichten ständig, Geschichten schreiben uns. Wir möchten inspiriert und gepackt werden, verändert und aufgerüttelt, aber auf eine Art und Weise, die wir auch „schlucken“ können. Es macht einen Unterschied, ob mir Meinungen und Äußerungen einfach so hingeworfen werden – lieblos und unpersönlich. Oder ob ich sie schön angerichtet, mit Liebe serviert, den Tisch mit Sorgfalt und Kreativität geschmückt bekomme. Das Wie macht den Unterschied! Lasst uns persönlich und auf Augenhöhe bleiben, wenn wir Geschichte schreiben – mit unseren Geschichten.
Bildpunkt: Die gesellschaftlichen Voraussetzungen dafür, mit dem, was gesagt wird, auch gehört zu werden, sind sehr ungleich verteilt. Die Subalternen, von denen Antonio Gramsci, Ranajit Guha und Gayatri Spivak geschrieben haben, können als Ausgegrenzte und Marginalisierte zwar viel sagen, aber ihr Sprechen bleibt ohne Auswirkungen. Wie lässt sich das ändern?
Adina: Kunst ist für mich ein Schlüssel. Der Hofnarr hatte Narrenfreiheit, das bedeutete, er konnte ungestraft Kritik und Äußerungen tätigen. Wenn er etwas sagte, wurde einerseits darüber gelacht, und auf der anderen Seite hat er Dinge aufgedeckt und enttarnt. Als Närrin des Wortes habe ich ebenso die Möglichkeit Dinge anzusprechen, die vielleicht unangenehm sind und nicht gerne gehört werden, aber meines Erachtens wichtig für unsere Gesellschaft sind. Wir alle gehen gerne ins Theater, schauen uns die zigste Sendung an und lauschen den endlos aus dem Boden sprießenden Podcasts. Wir haben heutzutage mehr Höfe denn je, in denen wir Hofnarren und Närrinnen sein können, um unserem Sprechen und Denken Ausdruck zu verleihen. Mein Medium ist Poetry Slam. Es ist eine Bühnenkunst, die viele anzieht und mit der ich viele Menschen erreiche, ob sie wollen oder nicht, da niemand weiß, welchen Text ich als nächstes dem Publikum darbiete.
Hanna: Die Edition Nautilus hat sich definitiv aus dem Milieu der Subalternen gebildet, wir haben kollektiv das Wort ergriffen und publiziert. Die Ausgegrenzten sprechen doch immer, natürlich nicht alle, aber viele von ihnen. Es ist eine Sprache jenseits von Institutionen, eine Sprache, die auf Wände geschrieben oder auf kleinen Zetteln verklebt, die gesungen, in Codes weitergegeben wird etc. Eigentlich muss man da nur zuhören. Bei den Gelbwesten in Frankreich trug so gut wie jede Weste die Sprache der Trägerin oder des Trägers, eine große Vielfalt von Anliegen, Poesie, Witz, Wut etc. kam zum Ausdruck. Ich glaube, es ist das Problem der Menschen, die in den Institutionen arbeiten und von ihnen geprägt sind, dass sie meinen, die Sprache der Subalternen hätte keine Wirkung. Sie haben eine große Wirkung, bis die Polizei sie zusammenknüppelt oder -schießt.
Bildpunkt: In den Geistes- und Sozialwissenschaften hat sich über die letzten Jahrzehnte hinweg eine Oral History etabliert, die u.a. den Anspruch hat, die Menschen selbst zu Wort kommen zu lassen und damit neue Perspektiven sichtbar zu machen. Auch in den Künsten ist diese Methode immer wieder zur Anwendung gelangt. Häufig sind es aber dann doch wieder die etablierten Künstler*innen und Wissenschaftler*innen, die die Worte der anderen repräsentieren. Wie ist dem entgegenzuarbeiten?
Adina: Mit Kulturpädagogik. Ich sehe es als meine Aufgabe, meine Bühnen und meine Reichweite zu teilen. Mit Egoismus kommen wir nicht weiter. Nur den Individualismus zu frönen und ihn anzubeten, führt uns in eine egozentrische Sackgasse, in der wir zwar laut brüllen können, aber nichts verändern. Deshalb ist es mir wichtig, Poetry Slam Workshops anzubieten, damit noch mehr Menschen, junge und alte, sich den Raum nehmen, Handwerkzeug erlernen und ihr Innerstes nach außen kehren können. So werden viele bunte Meinungen sichtbar, der Teppich der Ansichten wird vielschichtiger gewebt und der Dialog breitet sich aus. Denn nur wenn wir miteinander reden, wird das Übereinanderreden weniger und wir können als Gesellschaft mehr zusammenwachsen.
Es beginnt oft im Kleinen, in deiner alten Schule, mit einem Workshop, einem Poetry Slam in deiner Stadt. Wir wissen nicht, welche schöne und gesunde Saat aufgehen kann, wenn wir jetzt schon weit und viel streuen und damit vor allem in die Jugend investieren.
Hanna: Ohne eine gesellschaftliche Veränderung dienen diese Ansätze natürlich nur der Aufrechterhaltung der Verhältnisse, wie sie sind, indem sie etwas Luft aus den Spannungen lassen. Die Welt, und wer in ihr mit Wirkung spricht, lässt sich nur ändern, indem ihre Probleme (Eigentum, Herrschaft etc.) an der Wurzel gepackt werden. Dazu braucht es ein breites Vertrauen in die kreativen und solidarischen Kräfte aller Menschen. Ob aus den Aufstandsbewegungen der Marginalisierten in aller Welt eine wirkliche Veränderung entsteht, die ihrem Wort Wirkung verleihen kann, ist ungewiss, aber es ist sicher die einzige Möglichkeit. Nicht nur die Zapatistas haben es gezeigt: Kreativität, Solidarität, völlige Unabhängigkeit von staatlichen Institutionen, das ist die Macht des Wortes und der Kunst im Sinne der „Subalternen“, der ich alle Wirksamkeit der Welt wünsche.
Hanna Mittelstädt ist Mit-Gründerin und 45 Jahre lang Mit-Leiterin der Edition Nautilus, arbeitet als Übersetzerin und Autorin und lebt in Hamburg. Zuletzt erschien von ihr Arbeitet nie! Die Erfindung eines anderen Lebens. Chronik eines Verlags (Hamburg 2023).
Adina Wilcke, Poetin und Pädagogin, Veranstalterin von partizipativen Formaten, wie Poetry Slams und -Autorin des interaktiven Pop Up Poetry Buches Jetzt mach‘ mal die -Klappe auf!. www.adinawilcke.com
Das „Gespräch“ wurde im November 2023 von Jens Kastner per E-Mail geführt.