Während im politischen Diskurs und der breiteren Öffentlichkeit das staatliche Recht, sowohl die Einwanderung als auch die Einbürgerung „im Namen des Volkes“ zu regulieren, weitgehend als unhinterfragte Prämisse aller weiteren Diskussionen über Migration fungiert, ist in der philosophischen Diskussion das staatliche „Recht auf Ausschluss“ mit Bezug auf grundlegende Prinzipien der Gerechtigkeit, der Freiheit und der Demokratie in Frage gestellt worden und wird heute in uneingeschränkter Form kaum noch für rechtfertigbar erachtet. Neben den gewichtigen humanitären und völkerrechtlichen Gründen, das existierende Grenzregime für illegitim zu halten, gibt es also starke normative Überlegungen, die in dieselbe Richtung weisen.
Dem Vorwurf, das sei eine idealistische Perspektive, die doch bloß ein ohnmächtiges Sollen formuliert, entgeht zweierlei: zum einen, dass die Illegitimität des existierenden Grenzregimes (historisch, völkerrechtlich, humanitär, moralphilosophisch, politisch) überdeterminiert ist; zum anderen, dass Migration selbst eine zugleich soziale und politische Bewegung ist. Migrant_innen selbst stellen als politische Akteur_innen die Legitimität von Grenzen in Frage und konfrontieren politische Gemeinschaften mit der Frage, welchen Preis sie für die Aufrechterhaltung des Phantasmas „sicherer Grenzen“ zu zahlen bereit sind und wie ernst sie es eigentlich mit ihrem Bekenntnis zu Gerechtigkeit, Demokratie, Offenheit und Pluralismus meinen. Das geschieht nun nicht mehr nur durch politischen Aktivismus in den Aufnahmegesellschaften – wie seinerzeit durch die Sans Papiers in Frankreich oder heute We Are Here in den Niederlanden, deren Namen bereits den politischen Anspruch formulieren, überhaupt als politische und Akteur_innen wahrgenommen zu werden. Vor allem seit dem Sommer 2015 findet Protest vielmehr direkt an der Grenze statt, im Akt des Grenzübertritts und als Grenzübertritt, der damit selbst zu einem politischen Akt, zu einem Akt der Politisierung wird.
Indem sie den Akt der irregulären Grenzüberschreitung selbst politisieren, wenden sich Migrant_innen gegen die weitverbreitete und immer wieder auch von oben herab verkündete Sichtweise, sie seien eine kriminelle oder gar terroristische Gefahr, die es abzuwehren gelte, Teil eines zu regulierenden „Stroms“ oder einer umzuleitenden „Flut“, oder bestenfalls passive Opfer, denen „wir“ helfen müssten, natürlich nur im Rahmen des „Möglichen“ und als „politisch vertretbar“ Erkannten. Ob man den politischen Charakter der Grenzüberschreitung nun im Sinne der antizipierenden bzw. präfigurativen Inanspruchnahme eines Rechts auf internationale Bewegungsfreiheit, eines „Rechts zu fliehen“ (Sandro Mezzadra) begreift, als Ausdruck der exzessiven und autonomen Kraft der Migration (Manuela Bojadžijev und Serhat Karakayali) oder als Akt des zivilen Ungehorsams gegen ein illegitimes und alles andere als ziviles Grenzregime (Luis Cabrera) – die Politisierung der Grenze als Ort von Konflikt und Widerstand hat auch eine epistemische Funktion: Sie denaturalisiert etwas, das viele als gegeben akzeptieren, konterkariert ahistorische Rationalisierungsversuche von Exklusion und rassistischer Selektion mit Slogans wie „We didn’t cross the border, the border crossed us“ und „We are here because you were/are there“, und zwingt sich als unbeteiligt verstehende Beobachter_innen dazu, sich zu positionieren, so oder so. Das muss auch für die Europäische Union gelten, deren Repräsentant_ innen Trumps Programm von Mauerbau und „Muslim ban“ zu Recht anprangern, dabei aber vergessen – bzw. genauer: verschweigen –, dass an den militarisierten Außengrenzen der EU, also an den von „uns“ erbauten und administrierten Zäunen und Mauern – ebenso wie auf hoher See, la mer mortelle – der europäische „Traum“ zum Albtraum und in katastrophal vielen Fällen zur tödlichen Falle wird. Und damit ist die historische und aktuelle Verstrickung Europas in die Produktion und Verschärfung jener strukturellen Ungerechtigkeiten und Krisen, vor denen Menschen heute fliehen, noch gar nicht angesprochen.
In dieser Situation verschiebt sich notwendigerweise auch die Geopolitik sozialer und politischer Kämpfe, und die politische Linke darf es sich nicht länger erlauben, die Frage, auf welcher Seite sie steht – ob mit oder gegen Migrant_innen und Flüchtende – ausweichend zu beantworten. Ein solches Ausweichen aber kennzeichnet gerade das fatale Kalkül jener „Linken“, die meint, mit der Rückeroberung des Nationalen dem vermeintlichen Bündnis von Kosmopolitismus und Kapitalismus ein Bein stellen zu können, oder, nicht weniger perfide, mit Islam-bashing und ominösen Warnungen vor der „Multikulti-Ideologie“ dem Rassismusvorwurf entgehen zu können. Gerade im Zuge von Brexit, Trump und AfD gelingt es dem vermeintlich vergessenen weißen Mann erschreckend gut, ausgerechnet „Identitätspolitik“ und Multikulturalismus (welchen eigentlich?) für das Schlammassel verantwortlich zu machen. Wenn faschistische Tendenzen in der Gegenwart noch immer auf Homogenitäts- und Souveränitätsphantasien und unausgesprochen „Blut und Boden“-getränkter Gemeinschaftsrhetorik beruhen, dann kann man Migration tatsächlich nicht nur als zugleich soziale und politische Bewegung, sondern auch als antifaschistische Bewegung – und vielleicht auch als letzte Hoffnung der Linken – begreifen.
Robin Celikates lehrt Politische und Sozialphilosophie an der Universität von Amsterdam, wo er auch ein Forschungsprojekt zur Transformation zivilen Ungehorsams leitet