Die Thematik der Fremdheit gewinnt in Zeiten globaler Vernetzungs- und Wanderungsprozesse, durch die das vormals in klarer Abgrenzung zum Eigenen definierte Fremde vermehrt im Inneren dieses Eigenen auftaucht, zunehmend an Bedeutung. Hiermit verschwimmen bisherige klare Grenzziehungen zwischen Eigenem und Fremden und auch Vorstellungen von einem ursprünglichen und unabhängigen Eigenen sowie von der Möglichkeit einer klaren Abgrenzung von einem als ebenso ursprünglich angenommenen Anderen bzw. Fremden erweisen sich als immer weniger haltbar. Angesichts der wechselseitigen Abhängigkeit und Verflechtung von Eigenem und Fremdem wird zudem deutlich, dass fremd „an sich“ ebenso wenig existieren kann, wie zum Beispiel links „an sich“, sondern dass Fremdheit stets Ausdruck eines relationalen – aber auch hegemonialen – Verhältnisses ist.
Dies steht in Zusammenhang mit der Reflexion und Dekonstruktion eines Verständnisses von Fremdheit als vermeintlich objektiver Gegebenheit bzw. als vermeintlich „natürlicher“ Eigenschaft eines/r Anderen. Vielmehr kann Fremdheit als eine (Re-/ De-/) Konstruktion von Beobachter/-innen verstanden werden, die (diskursiv) im Rahmen des jeweiligen sozialen, kulturellen und historischen Kontextes verhandelt wird. Relevante Dimensionen, in denen diese (Re-/ De-/) Konstruktionen von Fremdheit stattfinden und wirken, sind u.a. die Dimension der Kultur, die Dimensionen des Symbolischen, Imaginären/Unbewussten und Realen sowie die Dimension „Macht und Hegemonie“ (vgl. Wilden 2013). Diesbezüglich lohnt im Hinblick auf die Bedeutung der Gesellschaft bzw. Lebenswelt bei den (Re-/ De-) Konstruktionen von Fremdheit ein Blick auf (ausgewählte) soziologische Theorien, die das Phänomen der Fremdheit bzw. die Figur des Fremden aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten und hiermit – teils auch implizit – wichtige Impulse für solch ein Verständnis von Fremdheit als Konstruktion von Beobachter/-innen und die hierbei zu reflektierenden Dimensionen bieten.[1]
Zu nennen sind hier sowohl die Klassiker der Soziologie, zu denen die Werke von Alfred Schütz, Georg Simmel und Norbert Elias zählen, die die Thematik der Fremdheit in die Soziologie einführten und weiterentwickelten, als auch anschließende soziologische Theorien, zum Beispiel von Zygmunt Bauman und Armin Nassehi. Ausgangspunkt der soziologischen Betrachtungen der Fremdheit ist Simmels Exkurs über den Fremden, in dem der Fremde aus einer raumtheoretischen Perspektive als derjenige „der heutige kommt und morgen bleibt“ (Simmel 1992, 764) beschrieben wird.[2] Demnach hebt sich der Fremde durch seine räumliche Mobilität von den im Gegensatz hierzu als räumlich fixiert verstandenen Einheimischen ab, woraus Simmel wiederum ein besonderes (Spannungs-) Verhältnis bzw. eine Gleichzeitigkeit von Nähe und Entferntheit als Charakteristikum des Fremden als Repräsentant des „Woanders“ ableitet. Die Definition des Fremden erfolgt bei Simmel also vor dem Hintergrund seiner räumlichen Positionierung und nicht anhand kultureller oder ethnischer Differenzen. Hervorzuheben ist jedoch, dass schon bei Simmel deutlich wird, dass die Zuschreibung von Fremdheit durch die Aufnahmegesellschaft erfolgt und erst durch die Nähe und die Bleibeabsicht des Fremden entsteht (ebd. 1992, 765 ff.).
Alfred Schütz hingegen betrachtet Fremdheit aus einer wissenssoziologischen Perspektive: Er beschreibt die Erfahrung des Fremden, wobei er hiermit explizit den Immigranten meint (vgl. Schütz 1972, 53), als Krisis, die mit dem Wechsel in ein anderes Wissens- und Relevanzsystem verbunden ist (vgl. ebd., 59). Dadurch, dass das (Rezept-) Wissen und das Relevanzsystem sowie die Kultur- und Zivilisationsmuster des Fremden, die als Grundlage von Orientierung, Interpretation und Interaktion innerhalb einer Gruppe fungieren (vgl. ebd., 61 f.), nicht mit dem der der Dominanz- bzw. Aufnahmekultur übereinstimmen, misslingt dem Fremden nach Ansicht von Schütz die situationsadäquate Auslegung und Anweisung von Handlungen (vgl. ebd., 58), während er hiermit gleichzeitig das Relevanzsystem sowie die Kultur- und Zivilisationsmuster der anderen Gruppe infrage stellt und die Beschränkung ihrer Gültigkeit und Viabilität auf spezifische Kontexte und Gruppen offenbart.
Im Hinblick auf diese Darstellung der Fremdheit, die diese – ebenso wie später auch Armin Nassehi (1997) – als Gegensatz von Vertrautheit bestimmt, ist kritisch anzumerken, dass Schütz hierbei von vorgegebenen und klar voneinander abgegrenzten, in sich homogenen Gruppen, Gesellschaften und Kulturen mit ihren jeweiligen Zivilisations- und Kulturmustern ausgeht und hiermit sowohl die internen Differenzen innerhalb der jeweiligen Gruppe als auch den Aspekt der (zunehmenden) Verflechtung von Kulturen und Gesellschaften vernachlässigt. Neben der behaupteten Eindeutigkeit dieser Muster als vermeintlich klare Orientierungsschemata erscheint zudem fraglich, inwieweit diese Kultur- und Zivilisationsmuster, wie auch die Strukturen der Lebenswelt, als lediglich vorgegeben und dem Individuum von außen aufoktroyiert bzw. durch Sozialisation erworben betrachtet werden, wie in der Schütz’schen Darstellung, oder aber als Ergebnis intersubjektiver Verständigungs-, Interaktions-, und Aushandlungsprozesse. Hierbei müssen jedoch stets die jeweiligen Machtverhältnisse bedacht werden, da diese bestimmte Deutungen und Sinnproduktionen zulassen und stabilisieren, während sie andere hingegen ausschließen.
Diesen Aspekt der Macht, der von zentraler Bedeutung für die Konstruktion und Zuschreibung von Fremdheit ist, beleuchtet aus soziologischer Sicht vor allem Norbert Elias: Er fokussiert bei der Erklärung der Genese und Stabilisierung sozialer Ungleichheiten weniger auf kulturelle oder ethnische Differenzen sondern vielmehr auf die Interdependenz- und Machtbeziehungen. Ausgehend von einer Fallstudie zur Beziehung zwischen Etablierten und Außenseiter_innen in einer „Winston Parva“ genannten englischen Gemeinde zeigen Elias/Scotson (1993), dass die Unterscheidung zwischen diesen Gruppen und die soziale Stigmatisierung der Außenseiter_in weniger durch individuelle Merkmale der Gruppenmitglieder als vielmehr durch die Machtasymmetrie in der Beziehungsfiguration begründet ist. Demnach kann auch die (kollektive) Zuschreibung von Fremdheit als Ergebnis der Machtverhältnisse verstanden werden.
Da jedoch auch Elias/Scotson ebenfalls zwei klar voneinander abgegrenzte, in sich geschlossene und kohärente Gruppen beschreiben, bietet sich eine Erweiterung des Blickwinkels mit der Perspektive von Zygmunt Bauman an, der mehr auf die gesellschaftlichen bzw. die Gesellschaft konstituierenden Mechanismen, Unterscheidungen und Grenzziehungen als Entstehungs- und Konstruktionsbedingungen von Fremdheit abhebt. Bauman geht nicht von geschlossenen und stabilen Gruppenkonstellationen aus, sondern thematisiert die Individualisierung und Universalisierung des Fremden in der Postmoderne sowie die Ambivalenz der Situation und Position des Fremden. Kernpunkt ist, dass Fremdheit ihm zufolge als Effekt der Moderne verstanden werden kann, die mit ihrer Idee der kulturellen Einheit und dem Bestreben, (gesellschaftliche) Ordnung auf der Basis binärer Gegensätze, wie zum Beispiel der zentralen Freund-Feind-Opposition, zu errichten und Ambivalenz und Differenz zu vernichten bzw. zu assimilieren, Differenz und Fremdheit erst erschafft (vgl. Bauman 1999). Er macht deutlich, dass das Fremde als das Außer-Ordentliche zugleich Bezugspunkt dieser Ordnung und demnach in diese eingeschlossen ist und durch die Unmöglichkeit der Zuordnung genau jene vermeintlich Ordnung stiftenden Antagonismen verstört und die Eindeutigkeit der damit verbundenen Grenzziehungen infrage stellt.
Interessant ist es, dies mit dem Blick der Cultural Studies zu ergänzen, die hinsichtlich der Repräsentationen des/der Anderen für den (kolonialen) Entstehungszusammenhang und die Bedeutung kultureller Machtverhältnisse sensibilisieren und hiermit hegemoniale Narrationen von homogenen Kulturen, Nationen und Identitäten sowie eindeutigen Grenzziehungen und binären Oppositionen, wie beispielsweise dem Westen und dem Rest (vgl. Hall 1994), dekonstruieren. Zentral sind hierbei ihre Konzepte der Hybridität, der doppelten Einschreibung und des kulturellen Dazwischen-Seins, mit denen sie zudem auf die Lücken und Auslassungen bisheriger Konzeptionen von Wirklichkeit und Kultur – und hiermit implizit auch auf das Fremde im Eigenen – hinweisen.
Hierbei beziehen sie sich auch auf die Hegemonietheorie von Laclau/Mouffe (2006), die verdeutlicht, dass die vermeintliche Einheit und Identität hegemonialer Diskurse stets auf einer Verbindung zu einem antagonistischen Außen basiert, dessen Präsenz zugleich jedoch die Unmöglichkeit ihrer dauerhaften Schließung und Fixierung, ihre Kontingenz und hiermit zugleich die Möglichkeit der Veränderung durch Gegenartikulationen offenbart. Das bedeutet auch, dass diese Konstruktionen von Bedeutungen, Grenzen und Identitäten, hierunter auch die Konstruktionen und Repräsentationen der/ des Fremden, eben aufgrund dieser Kontingenz unabgeschlossen und hiermit veränder- und verhandelbar sind, was wiederum Interventionsmöglichkeiten für bisher marginalisierte Akteure/-innen und Perspektiven bietet.
Insgesamt stellen jedoch die jeweils vorherrschenden Machtverhältnisse die (rekonstruktiven) Voraussetzungen, den Rahmen, für jede Konstruktion und Zuschreibung von Fremdheit dar, die stets mit einem Machtgefälle verbunden und immer ein Abbild und Ergebnis der hegemonialen Verhältnisse und Entscheidungen einer Gesellschaft ist. Die Perspektiven der Sozialwissenschaften sind hierfür vor allem dahingehend relevant, dass sie sowohl auf die Bedeutung dieses Machtaspekts hinweisen als auch den Gegensatz von Eigenem und Fremdem als grundlegend für die Herstellung von sozialer Ordnung und Wirklichkeit betonen und darlegen, dass Fremdheit stets in Relation zu einer bestimmten Ordnung definiert wird.
Andrea Wilden ist promovierte Diplom-Pädagogin mit dem Schwerpunkt interkulturelle Kommunikation und Bildung. Sie lebt in Köln und ist als Beraterin und Dozentin/Lehrbeauftragte im Bereich Diversity Management und interkulturelle Kompetenz tätig.
Literatur
Zygmunt Bauman: Unbehagen in der Postmoderne, Hamburger Edition, Hamburg 1999.
Norbert Elias, John L. Scotson: Etablierte und Außenseiter, Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1993.
Stuart Hall: Rassismus und kulturelle Identität, Argument-Verlag, Hamburg 1994. Ernesto Laclau, Chantal Mouffe: Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus, Passagen-Verlag, Wien 2006.
Armin Nassehi: Der Fremde als Vertrauter. Soziologische Beobachtungen zur Konstruktion von Identitäten und Differenzen, in: Andrea Wolf (Hg.): Neue Grenzen. Rassismus am Ende des 20. Jahrhunderts, Sonderzahl-Verlag-Ges, Wien 1997
Alfred Schütz: Gesammelte Aufsätze. Band 2. Studien zur soziologischen Theorie, Nijhoff, Den Haag 1972.
Georg Simmel: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1992.
Andrea Wilden: Die Konstruktion von Fremdheit – eine interaktionistisch-konstruktivistische Perspektive, Waxmann-Verlag, Münster 2013.
[1] Auf den Aspekt der Konstruktion von Fremdheit durch die (Diskurse der) Sozialwissenschaften – auch als Selbstlegitimierung von Wissenschaft – kann an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden (vgl. hierzu Wilden 2013, 228 ff.); Gleiches gilt auch für die Notwendigkeit der Reflexion des ethnozentrischen Blicks sowie der Beobachter_Innen- und Kontextabhängigkeit der (Sozial-) Wissenschaft.
[2] Simmel und Schütz beziehen sich explizit/ausschließlich auf den Fremden in der männlichen Form, weshalb ich zwecks korrekter Wiedergabe bei den entsprechenden Passagen bewusst auf eine Nennung beider Geschlechter verzichtet habe.