Gut leben. Wissen, wie man lebt. Wissen, wie man zusammenlebt. Es lässt sich sagen, dass das Konzept des Buen Vivir oder Vivir Bien (Sumak kawsay in Quechua und Suma qamaña in Aymara), als Konzept in Lateinamerika erst während des Aufbaus der neuen Plurinationalen Staaten durch die verfassungsgebenden Reformen Ecuadors und Boliviens im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts Gestalt annahm. Das gute Leben, verstanden als eine Art, die der Pluralität und Diversität der Völker eigen ist, die den historischen Kampf um die Entkolonialisierung führen. Aber es muss auch gesagt werden, dass dieses Konzept der lebendigen Kulturen den Jacha Uru abwartete: den großen Tag, wie man in Aymara sagt, den Tag, der Hoffnung für die Zukunft gibt. In diesem Sinne ist das Buen Vivir ein Konzept, das kollektives Wissen in Richtung einer gemeinsamen Zukunft projiziert. Es hat lange gedauert bis das Recht auf ein gutes Leben in einer Verfassung niedergeschrieben wurde. Und der Tag ist gekommen.
Die neue politische Verfassung des Plurinationalen Staates Bolivien beispielsweise, die nach einem Jahrzehnt der Kämpfe und sozialen Mobilisierungen von Indigenen, Bäuerinnen/ Bauern und Arbeiter*innen im Jahr 2009 demokratisch durchgesetzt wurde, erkennt in Kapitel Zwei, „Grundsätze, Werte und Ziele des Staates“, Artikel 8, II, Punkt II an: „Der Staat gründet sich auf den Werten der Einheit, Gleichheit, Inklusion, Würde, Freiheit, Solidarität, Gegenseitigkeit, Respekt, Komplementarität, Harmonie, Transparenz, Ausgewogenheit, Chancengleichheit, soziale und geschlechtsspezifische Gleichheit, um Teilnahme, Gemeinwohl, Verantwortung, soziale Gerechtigkeit, Verteilung und Umverteilung von Produkten und sozialen Gütern, um gut zu leben zu garantieren“. Zu diesem Zweck übernimmt und fördert die Verfassung „als ethisch-moralische Prinzipien der pluralen Gesellschaft“ verschiedene Konzepte, die das Zusammenleben aus unterschiedlichen Perspektiven und Kosmovisionen von den Andenvölkern bis zu den Tieflandnationen gestalten. Dazu gehören Suma qamaña oder Buen Vivir, sowie andere Konzepte, die aus indigenen Sprachen entlehnt wurden, wie Ñandereko, das harmonische Leben oder die Lebensweise der Guaraní, oder Qhapaj ñan, der würdevolle oder gute Weg der Quechua. Alle diese Konzepte beinhalten das Wissen, wie man zusammenlebt und wie man das Leben auf den Weg des gemeinsamen Wohlergehens führt.
In Bolivien war Buen Vivir die entscheidende Kraft für den Kampf, der zur Verstaatlichung der natürlichen Ressourcen führte. Eine politische Agenda angesichts des skrupellosen Versuchs der neoliberalen Regierung unter dem ehemaligen Militärdiktator Hugo Banzer Suárez, im Jahr 2000 das Wasser (Grundwasser und Trinkwasser) zu privatisieren. Aber auch der Kampf um das allgemeine Wahlrecht und die Agrarrevolution im Jahr 1952, die Unabhängigkeit vom kolonialen Joch im Jahr 1809 und sogar der 500-jährige Widerstand der indigenen Völker und Nationen waren geleitet von der Forderung nach einem guten Leben. Es handelt sich nicht um ein Konzept, das in der Neuzeit geschaffen wurde und das ein neues Narrativ brauchte, um progressive Politik zu betreiben. Ein Narrativ, das die Romantisierung der Indigenen als Opposition zum hegemonialen kapitalistischen Narrativ der sogenannten Entwicklungspolitik nutzt.
Wir glauben, dass es sich weniger um ein Konzept handelt, als vielmehr um eine Praxis, die die Komplexität des kollektiven und gemeinschaftsorientierten Lebens ohne ausbeuterische Zwecke greifbar machen kann. Wir gehen von der Annahme aus, dass das Leben nicht nur aus Menschen besteht, sondern aus der Gesamtheit der Elemente und Energien, dass die Kulturlandschaften und die Gemeinschaften, die sie bewohnen, unterschiedlich sind, aber einen gemeinsamen Horizont haben: das Leben zu bewahren, gut zu leben.
Aber die Aneignung des Buen Vivir als Konzept ist gefährlich, denn sein Ursprung wird gleichzeitig durch die Gewalt eines Staatsapparats „genehmigt“ und „durchgesetzt“, und ebenso in den akademischen Sozialwissenschaften und der Welt der NGOs und der sogenannten Entwicklungshilfe schlichtweg romantisiert. Während etwa die Regierungen von Bolivien und Ecuador heute versuchen, das Buen Vivir an eine archaische Logik und schließlich an die koloniale Bürokratie des Nationalstaates anzupassen, waren es zunächst die ursprünglichen indigenen Völker und die Gemeinschaften der Bäuerinnen/ Bauern und Arbeiter*innen, die sich mit einer globalisierten, von der kapitalistischen Gewinnspanne beherrschten Welt konfrontiert sahen und einen gemeinsamen, aber nicht homogenisierenden Horizont erkämpften. Es sind diese Bündnisse, die dem gegenwärtigen Kapitalismus und seinen hegemonialen Erzählungen konkrete und direkte Aktionen entgegensetzen konnten: die Selbstbestimmung der Völker, bei der das Leben, das Zusammenleben, im Mittelpunkt steht. Uns selbst horizontal zu erkennen, das Wir zu erkennen, die Erde, den Himmel, die Flüsse, die Tiere, die Dinge und die Menschen: Weil ich das Leben, das gemeinsame Leben anerkenne, fühle ich mich nicht minderwertig, sondern gemeinschaftlich. Denn ich fühle mich kollektiv, denn wir fühlen uns stark, denn wir fühlen uns souverän. Bei aller angebrachten Anerkennung der politischen Leistung: Die Verfassung des Plurinationalen Staates Bolivien mag die ökonomische Gleichheit und die Ernährungssouveränität der Bevölkerung als einige ihrer höchsten Werte anerkennen und garantieren wollen. Aber Buen Vivir ist zu aller erst ein kollektiver Akt der Bevölkerungen, der dem modernen Nationalstaat vorausgeht und der den neoliberalen Kapitalismus überdauern wird. Es ist das Wissen, wie man zusammenlebt, das Wissen, wie man überlebt, es ist die Intelligenz und die politische Kultur derer, die eine Gemeinschaft sind, bevor sie ein Staat sind.
Die kulturelle Ökonomie des Buen Vivir hat mit der Umverteilung des Reichtums zu tun, mit der Überwindung des Individuums und dem Übergang zum Gemeinsamen, denn dort, wo die/ der eine vorankommt, während sie/ er sich um die/ den andere/n kümmert (die Natur, die Dinge und die Menschen), dort kommen alle voran. Das heißt, die Formen der Produktion von Materialität werden unter Berücksichtigung der Landschaft, die geschaffen und bewohnt wird, betrachtet. In dieser ständigen Bewegung schafft die Kraft des Lebens Welten.
Buen Vivir ist in uns allen präsent, die wir eine neue Welt für möglich halten und die dafür aus dem Kollektiv heraus kämpfen und mit den aktuellen Kämpfen koexistieren: Feminismus, Antirassismus, Antikolonialismus, der Kampf um gleiche Rechte, der Kampf um das Leben, der Kampf ums Überleben. Es ist wichtig zu verstehen, dass die indigenen Völker weder die moralische Reserve der Menschheit waren noch sind. Aber das Wissen und die Intelligenz der historisch disqualifizierten, ermordeten und reduzierten Bevölkerungen hat bis heute überlebt, und es lebt weiter wegen seiner Insistenz und Schlagkraft gegen den historischen Kapitalismus und gegen den zeitgenössischen globalen Markt.
Buen Vivir ist weder eine fortschrittsorientierte Gewissensprüfung noch ein theoretisches Konzept, noch ist es eine Anrufung der Vorfahren. Es ist eine Zuneigung zum
Leben, eine Anteilnahme am Leben, es bedeutet, das Leben über den Tod zu stellen, das Gemeinsame über das Individuelle. Es geht darum, gut und schmackhaft zu leben, es geht darum, in Würde zu leben. Dass genug für alle da ist und es niemandem an etwas mangelt. Es geht um das Wissen, wie man zusammenlebt.
Wissen, wie man gut zusammenlebt – wie Buen Vivir, Suma qamaña in Aymara, auch übersetzt werden kann – bezieht sich auf die alltäglichen Begegnungen, auf die Art und Weise, wie wir mit dem Konsum, der Produktion, der Erholung, mit all dem konfrontiert werden, was notwendig ist, um in Übereinstimmung mit den Perspektiven zu leben, die jede Vielfalt beinhaltet und die sie täglich in der Gemeinschaft zu reproduzieren versucht. Dieses Wissen und diese Kraft wurden von ihren Gegner*innen fälschlicherweise als Rückkehr zu einem vorkolonialen historischen Szenario dargestellt, um sie zu disqualifizieren, und dadurch die Kluft im Zusammenleben der Diversitäten zu vergrößern. Doch es ist auch so, dass selbst die fortschrittlichsten Staaten, was die Revolution betrifft, dieses Wissen und diese Kraft nicht integriert haben, sondern nach wie vor dazu tendieren sie zu romantisieren und als „Andersheit“ zu verdinglichen. Das Wissen, wie wir gut leben um gut zusammen zu leben, ist die politische Intelligenz und die kulturelle Kraft, die der Staat braucht, um gut zu existieren. Aber sie gehören nicht dem Staat. Sie gehören dem Leben.
Claudia Pacheco Araoz und Max Jorge Hinderer Cruz (PCP – Programa Cultura Política)
PCP – Programa Cultura Política ist eine Denkplattform, die darauf abzielt, das Konzept und die Verwaltung von Kultur als wirtschaftliches und politisches Instrument zu überdenken, basierend auf den spezifischen Erfahrungen des Plurinationalen Staates Bolivien. Die PCP wurde von Claudia Pacheco Araoz und Max Jorge Hinderer Cruz nach dem Staatsstreich gegen die Regierung von Evo Morales im November 2019 gegründet. https://laplurinacional.com.bo/inicio/programa-cultura-politica/